17. Dezember 2019Jan Filipzik
Heiligabend in der Schwebebahn
Immer, wenn der berühmte Zirkus Simoneit-Barum am Carnaper Platz sein Zelt aufschlägt, nimmt sich Dieter Burmester, technischer Leiter und Tausendsassa, zwei Stunden Zeit und fährt mit der Schwebebahn. Einmal erlebte er eine besondere Geschichte.
In der Schwebebahn schreibt Burmester oft seiner Tochter Nina, die mit ihrem Mann einem Clown, im Ausland in einem anderen Zirkus arbeitet, eine Postkarte. Die Geschichte, die ihn so eng mit Wuppertals weltberühmten Wahrzeichen verbindet, hat sich vor Jahrzehnten zugetragen.
Damals war Dieter Burmester, ein gelernter Maschinenschlosser mit Zirkus-Sehnsucht, auf Arbeit im Ruhrgebiet. Als der Chef mitbekam, dass sein Allround-Mitarbeiter demnächst aufhören wolle, schmiss er ihn von einem Moment auf den anderen raus. Auch aus der Wohnung und ausgerechnet am Vormittag von Heiligabend. So stand er auf der Straße, hatte keine Bleibe, war völlig abgebrannt, hatte auch Hemmungen, zum Sozialamt zu gehen.
Die letzten 15 Mark brauchte er für eine Tankfüllung Benzin. Sie musste für die Fahrt mit dem zum Campingwagen umgebauten alten Kombi zu einem Bekannten in Niedersachsen reichen, wo er mit Frau und Tochter über Weihnachten Unterschlupf zu finden hoffte.
Weder für seine Frau, noch für Nina, die sich auf Weihnachten und das Christkind freute, hatte er Geschenke. Die hatte er mit dem Lohn kaufen wollen, den ihm sein bisheriger Arbeitgeber vor Zorn nicht herausrückte.
Was tun in solcher Situation? Um Nina abzulenken fuhr Dieter Burmester nach Wuppertal. Er erzählte der Kleinen, an Heiligabend würde das Christkind unerkannt Schwebebahn fahren, damit es bei den Familien, die es besuche, vorher schon einmal durch die erleuchteten Fenster in die Stube schauen und erfahren könnte, ob die Kinder auch lieb seien.
Und weil Nina das natürlich auch sehen wollte, fuhren sie Schwebebahn. Von Vohwinkel nach Oberbarmen und wieder zurück. In Augenhöhe erleuchtete Wohnungen, in denen Kerzen am Weihnachtsbaum brannten.
Doch als sie aussteigen wollten – ihre Fahrkarten hatten keine Gültigkeit mehr – fragte der Schaffner (damals gab’s noch einen), ob sie denn nicht noch eine weitere Runde mitfahren wollten. An diesem Abend koste das nichts, sie seien eingeladen. Der Mann hatte mitbekommen, dass diese Familie mit kleinem Kind an diesem Abend keinen Platz in einer Herberge hatte.
Also fuhren Vater und Mutter so lange Schwebebahn, bis Nina so tief eingeschlafen war, dass sie das Aussteigen gar nicht mehr mitbekam. Die Tochter verschlief den Heiligen Abend, träumte vom Christkind in den Wohnungen an der Schwebebahn, und sie wachte erst auf, als die Familie bei dem Bekannten Unterschlupf, Essen und einen brennenden Weihnachtsbaum gefunden hatte.
Aus dem kleinen Mädchen von damals ist eine Frau geworden. Wo auch immer sie und ihr Zirkus in der Welt herumreisen: wenn es weihnachtet, erzählt sie den Zirkuskindern, wie es war, als sie arm waren, keine Bleibe hatten und in Wuppertal wie das Christkind Schwebebahn fuhren.
* Dieter Burmester ist im Mai 2010 verstorben
Ernst-Andreas Ziegler: Journalist & Geschichtensammler
Prof. Dr. Ernst-Andreas Ziegler wurde er in Weimar, doch er ist längst mit Leib und Seele Wuppertaler. Der langjährige Leiter des Wuppertaler Presse- und Informationsamtes, Initiator, Herz und Geschäftsführer der Junior-Uni. Eine Aufgabe, eine Berufung, die ihn auch mit 81 Jahren noch jung, dynamisch und neugierig hält. Diese positive Neugierde ist und bleibt seine Triebfeder. Wie andere Briefmarken sammeln, ist er ständig auf der Suche nach Geschichten rund um seine zweite Heimatstadt. Am 18. November 2019 wurde Prof. Dr. Ernst-Andreas Ziegler zum Ehrenbürger der Stadt Wuppertal ernannt – wie u.a. Johannes Rau, Pina Bausch, Dr. Wilfried Penner, Lore Jackstädt, Jörg Mittelsten Scheid und Tony Cragg.
Zwei Bücher mit Kurzgeschichten über Wuppertal, Wuppertaler und Besucher unserer Stadt hat er bereits im Born-Verlag veröffentlicht. Aus seinem Werk „Auf der Suche nach der Wuppertaler Seele“ stammt auch die wunderschöne Weihnachtsgeschichte „Heiligabend in der Schwebebahn“.
DS: Wie haben Sie die Geschichten, die Sie in Ihrem Buch zusammengefasst haben, gefunden?
Prof. Ziegler: „Das ist journalistisches Handwerk: Augen und Ohren aufhalten, zu unterschiedlichsten Zeiten durch die Stadt schlendern – jede Straße sieht zum Beispiel frühmorgens anders aus als spätnachmittags und zu Fuß erlebt man jede Stadt anders als per Auto. Also auf die Menschen zugehen und mit ihnen reden, vor allem aber zuhören.“
DS: Welche Geschichte ist Ihnen ganz persönlich besonders an Herz gegangen?
Prof. Ziegler: „Da gibt es mehrere. Zum Beispiel „Der erste Schnee“ über ein sehr vergnügliches Erlebnis mit meinem später verschollenen sudanesischen Freund oder „Mitgeschöpfe“ über Krötenwanderungen oder „Was zum Himmel schreit“ über den Wuppertaler Arzt an der Rampe in Auschwitz-Birkenau. Und natürlich die Weihnachtsgeschichte mit der Schwebebahn.“
DS: Wird es eine Fortsetzung, sprich ein weiteres Buch mit Wuppertal-Kurzgeschichten von Ihnen geben?
Prof. Ziegler: „Auf der Suche nach der Wuppertaler Seele“ war bereits die Fortsetzung des zuvor erschienenen Buches „Liebeserklärung an Wuppertal“. Beide Bücher sind im Wuppertaler Born-Verlag erschienen. Über eine dritte Kurzgeschichten-Sammlung denke ich derzeit noch nicht nach.“
DS: Haben Sie die „Wuppertaler Seele“ inzwischen gefunden?
Prof. Ziegler: „Ja, sie sieht man mit dem Herzen. Sie ist wie eine gute Fee und tritt in verschiedenen Gestalten auf. Weil sie sich versteckt, hört die Suche nach ihr auch für mich nicht auf.“ (pp)
www.born-verlag.de – www.junioruni.de
Ernst-Andreas Ziegler
Auf der Suche nach der Wuppertaler Seele
Verlag J.H. Born GmbH Wuppertal
ISBN-Nr. 3-87093-078-0
Ernst-Andreas Ziegler
Liebeserklärung an Wuppertal
Verlag J.H. Born GmbH Wuppertal
ISBN-Nr. 9-7838709-3056-1
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