28. Mai 2020

„Reich-Ranicki sorgte dafür, dass Literatur im Gespräch blieb“

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 2. Juni 1920 wurde der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geboren. Ein Interview mit dem Germanisten Prof. Dr. Matías Martínez über eine bewegte Lebensgeschichte, bissige Kommentare und Reich-Ranickis Rolle im Literaturbetrieb der Bundesrepublik.

Prof. Dr. Matías Martínez / Germanistik – © Foto: UniService Transfer
Am 2. Juni 1920 wurde der einflussreichste deutsche Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, Marcel Reich-Ranicki, geboren. Wer war dieser Mann?

Martínez: In seiner lesenswerten Autobiografie „Mein Leben“ (1999) gibt Reich-Ranicki Einblick in seine bewegte Lebensgeschichte, die viel deutsche Geschichte widerspiegelt. Besonders eindrucksvoll sind die Kapitel über seine frühen Jahre. Er wurde 1920 in Polen in einer deutsch-polnischen, jüdischen Familie geboren, zog neunjährig zu Verwandten nach Berlin und machte dort mitten in der NS-Zeit 1938 Abitur. Studieren durfte er nicht, stattdessen wurde er nach Warschau deportiert. Dort musste Reich-Ranicki bald ins Ghetto und arbeitete für den „Judenrat“ als Übersetzer aus dem Deutschen. Er erzählt, dass er sich in dieser Zeit immer, soweit das ging, sorgfältig kleidete und zweimal täglich rasierte, um den Deutschen nicht negativ aufzufallen – eine Angewohnheit, die er lebenslang beibehielt. Eltern und Bruder wurden von Deutschen ermordet. Nach dem Krieg blieb er in Polen und arbeitete u. a. als Diplomat und für den Geheimdienst. 1958 siedelte er dann in die Bundesrepublik über und wurde der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker seiner Zeit.

Die Öffentlichkeit nannte ihn auch gerne den Literaturpapst. Wie kam er zu diesem Titel?

Martínez: Ironischerweise hat dieser Literaturpapst zwar Abitur gemacht, aber nie studiert. Später folgten allerdings viele Ehrenpromotionen, Honorarprofessuren, Gastprofessuren und Preise. Den Titel „Literaturpapst“ verdiente er sich durch brillant geschriebene Kritiken, aber auch durch seine erstaunliche Belesenheit, unermüdliche Produktivität und große mediale Präsenz über ein halbes Jahrhundert hinweg: Er war Feuilleton-Mitarbeiter der ZEIT (1960-1973) und Literatur-Leiter der FAZ (1973-1988). Im Fernsehen war er vor allem mit dem „Literarischen Quartett“ (1988-2002) erfolgreich. Außerdem schrieb er über 20 Bücher, gab zahlreiche Anthologien heraus, war Mitbegründer des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (1977) und vieler anderer literarischer Institutionen.

Das „Literarische Quartett“ erreichte besonders viel Publikum. Kein anderes Feuilleton-Format hat in der Geschichte der Bundesrepublik den Verkauf von Literatur so stark beeinflusst. Die Buchhändler orientierten sich bei ihren Bestellungen an der Leseliste und den Empfehlungen des „Quartetts“. Es hat regelrecht Bestseller gemacht, z. B. Ruth Klügers Autobiografie „weiter leben“.

Reich-Ranicki war mit seinen Kritiken auch deswegen so erfolgreich, weil er eine Literatur favorisierte, die anspruchsvoll, aber für ein allgemeines Publikum zugänglich war. Unterhaltsam war für ihn kein Schimpfwort. Außerdem verstand er es, die Analyse literarischer Texte mit anekdotischen Details zu würzen. Er beschrieb Werke gern vor der Folie des Lebens ihrer Autoren. Ich erinnere mich an einen Aufsatz über den österreichisch-ungarischen Schriftsteller Ödön von Horváth, der damit endet, dass Horváth absurderweise mitten in Paris auf den Champs-Élysées von einem herunterfallenen Ast erschlagen wurde. Als man seine Taschen durchsuchte, fand man – fügt Reich-Ranicki hinzu – einen kleinen Stapel erotischer Fotografien. Es sind solche kleinen Pointen, die nicht unbedingt das Verständnis von Horváths Werken fördern, sich aber doch ins Gedächtnis brennen und einen Autor plastisch machen.

Reich-Ranickis Kritik konnte beißend sein. Von den Romanen des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll hielt er nicht viel, Martin Walsers Buch „Tod eines Kritikers“, in dem sein Einfluss als Mitglied des Literarischen Quartetts geschildert wird, nannte er den „totalen Zusammenbruch eines Schriftstellers“, und über Elfriede Jelinek urteilte er „Ein guter Roman ist ihr nie gelungen, beinahe alle sind mehr oder weniger banal oder oberflächlich“. Wollte er nur provozieren oder ganz klar Meinungsmache betreiben?

Martínez: Er wollte gewiss provozieren, um für die Literatur und wohl auch für sich selbst Aufmerksamkeit zu erregen. Aber die Aufgabe der Literaturkritik ist ja eben, anders als die der Literaturwissenschaft, die publikumswirksame Beurteilung und Bewertung von Literatur. Kritiker sind wichtige Akteure auf dem literarischen Markt, der heute mehr denn je in Konkurrenz zu anderen Medien steht. Es wird immer weniger Literatur gelesen – das sehe ich selbst bei meinen Germanistik-Studierenden. Reich-Ranicki sorgte dafür, dass Literatur im Gespräch blieb.

Natürlich haben sich Autor*innen auch gewehrt. Peter Handke hätte Reich-Ranickis früheren Tod nicht bedauert, Günter Grass sprach von der Trivialisierung der Kritik durch einen schwachen Literaturkritiker und Rolf Dieter Brinkmann sagte ihm in einer Podiumsdiskussion ins Gesicht: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen.“ Ist Reich-Ranicki übers Ziel hinausgeschossen, oder sind gute Kritiker*innen so ambivalent?

Martínez: Reich-Ranicki sagte selbst: „Ein Literaturkritiker, der etwas taugt, ist immer eine umstrittene Figur“. Aufgabe der Kritik sei auch die „Müllabfuhr“ schlechter Werke. Seine Kritiken beginnen gern mit einem provokanten ersten Satz, der wie ein Teaser den Leser anlockt. Und er formulierte seine Urteile mit großer Entschiedenheit. Günter Grass sagte einmal: „Reich-Ranicki schreibt nicht: ‚Ich finde den Autor XY unbegabt‘, sondern: ‚Der Autor XY ist unbegabt‘“.

Wie wird der 2013 verstorbene Kritiker heute beurteilt?

Martínez: Wichtiger als die Kritiken und Bücher – obwohl diese immer noch gut zu lesen sind – ist aus heutiger Sicht vielleicht Reich-Ranickis zentrale Rolle im Literaturbetrieb der Bundesrepublik. Deren Bedeutung kann man neutraler analysieren, nachdem der Pulverdampf der Aktualität sich gelegt hat.

Herr Martínez, welcher Kritiker des 21. Jahrhunderts mischt denn heute die Literaturszene auf?

Martínez: Keiner tut das so stark wie Reich-Ranicki. Am ehesten vielleicht Denis Scheck, der in seiner einfallsreichen ARD-Sendung „Druckfrisch“ klug über Neuerscheinungen und mit Autoren spricht, aber auch schlechte Bücher demonstrativ in die Tonne wirft. Dabei deckt er ein breiteres Spektrum als Reich-Ranicki ab, weil er die Populärkultur stärker einbezieht. Ich lese auch die scharfsinnigen Kritiken von Ijoma Mangold (ZEIT) gern, weil man aus ihnen mehr, als das bei Reich-Ranicki der Fall war, darüber lernt, wie die Werke literarisch gemacht sind.

UWE BLASS

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