14. August 2020Peter Pionke
Das Leben danach: Prof. Dr. Hartmut Gülker
Sie scheinen allwissend, alles schaut zu ihnen auf. Nicht selten spricht man von „Herrgöttern in Weiß“. Chefärzte unserer Kliniken genießen höchstes Ansehen. Eine Reputation, die auf Vertrauen und Glaubwürdigkeit, manchmal auch auf Glaube beruht. Aber was machen solche Persönlichkeiten, wenn sie den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit überschritten haben und in den Ruhestand gehen müssen?
Manche stürzen ab, manche gehen ihren Hobbies nach, manche übernehmen auch spannende, sinnvolle Aufgaben. Ein Beispiel ist Professor Dr. Hartmut Gülker, ehemaliger kardiologischer Chefarzt der Helios Kliniken Wuppertal. Er schied Ende 2010 aus deren klinischen Diensten mit überragendem Erfolg in medizinischen, wissenschaftlichen und auch wirtschaftlichen Bereichen aus. Bis heute genießt er bundesweit hohe Reputation.
Prof. Dr. Hartmut Gülker findet das Lebensgefühl seiner Jugend wieder
Sein Bewegungsradius, aber auch sein Denkradius haben sich deutlich verändert. Professor Dr. Hartmut Gülker ist heute in Wuppertal und in zahlreichen anderen deutschen Städten beratend in der Entwicklung kardiovaskulärer Strukturen von Krankenhäusern tätig.
Ein Drittel seiner Aktivitäten spielt sich dabei im Ausland ab, bevorzugt im Städte – Dreieck Istanbul – Baku – Bagdad. Dieser Raum hat das besondere Interesse des nach eigenen Angaben „gläubigen Katholiken“ gefunden – über den Job hinaus wegen seiner Kultur, seiner großartigen Geschichte mit seinen prägenden Auswirkungen auf Europa, nicht zuletzt wegen seiner Menschen. Hört man ihm zu, hat man den Eindruck, mit einem sehr weisen und welterfahrenen Mann zu sprechen, der etwas zu sagen hat und dies auch gerne tut, gelegentlich sogar in Arabisch.
Man trifft auf ein schier unerschöpfliches Themenspektrum, auf interessante Ansichten und Meinungen, die sich in jetzt 72 Lebensjahren herausgebildet haben. Ein Lebensweg mit Höhen und Tiefen, geprägt von dem plötzlichen Tod seiner damals 50jährigen Ehefrau, die an einer harmlosen Unterleibserkrankung aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers verstarb und ihm mit seinen damals noch minderjährigen vier Kindern allein zurück ließ.
„Hilferuf“ aus Bagdad
Ein im Internet verbreiteter Hilfe-Rundruf aus Bagdad sollte ihn in den Irak führen. Ein Irakischer Kollege, den er aus Mainz kannte, suchte Unterstützung. Gülker fühlte sich angesprochen. Obwohl er in Bagdad nach dem 2. Golfkrieg eine bedenkliche Sicherheitslage vorfand, faszinierte ihn die dortige Welt.
Bis zu 6.000 $ blätterte man täglich für die Sicherheit (gepanzerte Fahrzeuge, Konvoi etc.) hin, wenn man nicht, wie er, auf eigene Faust mit einem persönlich bekannten Taxifahrer unterwegs war. Den zunächst privaten Aktivitäten folgten zwischenstaatliche Projekte, bei denen gute Kontakte nach Berlin halfen und in die Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe regelmäßig eingebunden war.
Prof. Gülker hält mit seiner persönlichen politischen Meinung nicht hinterm Berg: „Was der Westen mit seinem Überfall im Irak angerichtet hat – mit allen seinen Folgen bis heute mit über 10 Millionen Flüchtlingen und zahllosen Toten – ist ein Verbrechen, das vor Ort schon damals mit allen seinen Folgen erkennbar war. Das wollte aber in Europa lange Zeit niemand hören. Vorher gab es kein Chaos, keinen religiösen Extremismus – gar nichts. Der Irak war ein funktionierendes Land mit sehr guter Krankenversorgung, einer breiten wohlhabenden bürgerlichen Mittelschicht. Der Imperialismus der USA, der jetzt auch gegen die EU und Deutschland deutlich wird, hat in der Region alles zerstört und eine Menschheits-Katastrophe ausgelöst. Vielleicht lernt die Bevölkerung in Deutschland langsam, diese Prozesse besser zu verstehen, wenn sie selbst betroffen ist“, so Gülker.
Zu Russland habe die arabische Welt, soweit sie überhaupt einheitlich auftrete, ein gespaltenes Verhältnis. Gülker war zuletzt geschäftlich in Gaziantep, einer der ältesten Städte der Welt im Süden der Türkei. Sie liegt an der alten Seidenstraße und der Grenze zu Syrien, heute ein Zentrum der Flüchtlingsströme. Als hier zuletzt das von Kroatien gewonnene Fußball-WM Spiel gegen die Russen übertragen wurde, gab es ob der russischen Niederlage einen Freudentaumel.
„Man konnte erleben, wie die Russen für die Bombardements syrischer Städte verantwortlich gemacht werden“, sagt Gülker. Beeindruckt ist er von der lokalen Politik, wo man in einer Stadt mit 700.000 Einwohnern zusätzliche 500.000 Flüchtlinge zu integrieren versucht und wo inzwischen dank Bürgermeisterin Fatma Sahin eine Kultur des Zusammenlebens entstanden sei.
Mietwucher und steigenden Immobilien-Preisen begegnete man kurzerhand mit einer Preisbremse, wie sie in Deutschland nicht vorstellbar wäre. Alle können sofort arbeiten. Merkels „Wir schaffen das“ ist hier – mit viel mehr Flüchtlingen als in Deutschland – Realität geworden – dank eines pragmatischen Unterbaus in der Realisierung der notwendigen Prozesse“, so Gülker.
Verständnis für die Türkei, Özil und Gündogan
Zu den Lieblingsstädten von Hartmut Gülker gehört indessen Istanbul. Warum? „Hier herrscht ein Lebensgefühl mit traditionellen Wertvorstellungen von Familie, der Wertschätzung von Kindern, einem kraftvollen Gemeinschaftsgefühl, Elemente, die ich zeitversetzt aus meiner Jugend kenne. Während wir uns in Deutschland zu einer immer mehr alternden Gesellschaft entwickelt haben, mit immer weiter voranschreitender Individualisierung, oft ohne wirkliche Lebensfreude, mit einer ‚deutschen’ Geburtenquote von nur 0,7 %, ohne die Zukunft zu bedenken. Ohne Zuwanderung hätten wir schon heute auch in Wuppertal Leere und Ödnis, wie sie vielerorts in Deutschland anzutreffen ist“, meint er.
Wenn man in der Türkei nicht nur Urlaub macht, sondern sich dort länger aufhält und auch arbeitet, lerne man die Menschen anders zu sehen und verstehen. Das gelte im Vielvölkerstaat Türkei auch für Staatschef Recep Erdogan, der für die arabische Welt ein Held sei.
„Erdogan ist sicher ein Garant dafür, dass nach den Arabischen Staaten nicht auch noch die Türkei gekippt ist. Ein Land wie die Türkei – lange Grenzen zum IS-Staat, lange Grenzen zu einem riesigen Bürgerkriegsgebiet, mit kurdischen Separatisten, vor kurzem ein Staatsstreich mit Sprengung des Parlamentsgebäudes und Hunderten von Toten usw. – kann man vermutlich nur in einem Präsidialsystem stabil halten. Die Stabilität des Vielvölker-Staates Türkei war und ist noch immer in Gefahr“, so Prof. Hartmut Gülker.
Und zum Fussball-Thema der Mesut Özil und Ilkay Gündogan? „ Lächerlich! In der zweiten Einwanderer-Generation hat jeder einzelne Wurzeln und Identitäten in beiden Ländern und Kulturen. Hat man jemals eine türkische Stimme gehört, die ein Drama daraus machte, das sich Mesut Özil bei der letzten Weltmeisterschaft zusammen mit der deutschen Bundeskanzlerin fotografieren ließ?“
Bleibt die Abschlussfrage an den Mediziner Dr. Hatmut Gülker, wer ihn denn auf seinen Reisen ärztlich betreue? „Das mache ich selbst, ich kenne die wichtigsten Symptome“, lacht er, bevor er sich wieder nach einem Kurz-Aufenthalt in Wuppertal in den Flieger nach Bagdad setzt, wo ihn nach eigenen Worten 56 Grad Celsius erwarten. Eine stramme Leistung für einen, der sich, wenn auch langsam, auf die achtzig bewegt.
Text: Siegfried Jähne
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