26. Februar 2021

Obdachloser AJ: Schritt für Schritt zurück ins normale Leben

Der Foto-Designer und ehemalige Pfarrer Taro Kataoka hat vor einem Monat per Zufall den abdachlosen AJ alias Thomas auf der Platte in Elberfeld kennen gelernt. Das Schicksal des Ex-Häftlings berührte ihn zutiefst. Seither hat er sich entschlossen, AJ ein Stück weit zu begleiten - auf den Weg zurück in die Gesellschaft. Und AJ macht immer mehr Fortschritte, wie Taro Kataoka bei seinem vierten Treffen mit einen Glücksgefühl wahrnehmen durfte.

AJ schaut schon viel zuversichtlicher in die Zukunft – © Taro Kataoka

Vierter Besuch beim Obdachlosen AJ alias Thomas . Es ist Sonntag; einer, der seinem Namen alle Ehre macht. Es ist angenehm warm, selbst im Schatten. Als ich auf AJs Stammplatz zugehe, sehe ich, dass er gerade aufgestanden ist und in Richtung Döppersberg geht. 

Da ich ahne, dass er länger wegbleiben könnte, gehe ich ihm nach. Aber AJ hat einen ordentlichen Schritt drauf und ich habe Mühe, ihm zu folgen. 

In Bahnhofsnähe begrüßt er eine Bekannte. Doch dann entdeckt und erkennt er mich und kommt mir entgegen. Er freut sich, mich zu sehen, hatte er doch schon Ausschau nach mir gehalten. 

Wir gehen zurück zu seinem Stammplatz und er berichtet mir, dass er zwei Wohnungen in Aussicht habe. Natürlich sei noch nichts sicher, aber er hoffe sehr, dass aus einer dieser Wohnungen seine werden würde. 

Ein kleines Schränkchen habe er auf dem Sperrmüll entdeckt. Das wolle er heranschaffen, damit er etwas habe, um seine Kleidung zu verstauen. Ich frage ihn, ob er denn auch Gelegenheit habe, seine Kleidung zu waschen. 

„Oh, ja“, sagt er und erzählt mir von „Gleis 1“, eigentlich eine Drogenhilfeeinrichtung, aber eben auch eine Sozialstation mit  einer Möglichkeit, um Wäsche zu waschen und zu trocknen. 

Die nehme er regelmäßig für je einen Euro in Anspruch und sagt: „Schließlich muss ja auch meine Schlafwäsche sauber sein.“ Mich beeindruckt das sehr, weil es mir zeigt, dass sich AJ Stil und Würde bewahrt hat.

AJ lässt sich den Döner schmecken, den er spendiert bekam © Taro Kataoka

Längst sitze ich auf einem Kissen neben ihm auf einem Fenstersims und wir plaudern munter miteinander. „Sag mal ganz ehrlich: Wenn Du an meiner Stelle obdachlos hier den ganzen Tag über herumsitzen würdest, wie würdest du Dich da fühlen?“ fragt er mich ganz offen.

Ich muss nachdenken, weil ich mir selbst eingestehen muß, dass ich mich noch nie so richtig in die Lage eines Obdachlosen hineinversetzt, geschweige denn einen Tag lang auf dem Bürgersteig oder in der Fußgängerzone gesessen habe. 

Aber eines wird mir sofort bewusst, wenn ich die vielen schweigend an mir vorbei gehenden Menschen sehe: „Ich würde mich ziemlich einsam fühlen.“ 

„Oh, ja, das ist es“, sagt AJ und erzählt mir, dass es zwar schön sei, dass die Temperaturen hoch gegangen seien, aber die Kehrseite davon: Die Passanten würden nun weniger Geld in seine Dose werfen. 

Eine Frau kommt Eis essend vorbei und legt ihm eine Münze in die Dose. AJ bedankt sich und wünscht ihr freundlich ein schönes Wochenende, ohne zu ahnen, wie viel er gespendet bekommen hat. – Es sind 50 Cent – „Ich bedanke mich grundsätzlich und wünsche immer einen schönen Tag oder eben ein schönes Wochenende. Manchmal ergibt sich so auch  ein Gespräch.“ Aber heute tut sich diesbezüglich nichts.

Dann erzählt mir AJ, dass in der vergangenen Woche eine Dame vorbeigekommen sei und ihn gefragt habe, ob er AJ sei. Er habe die Frau nicht gekannt, aber dann berichtete sie, dass sie die Artikel in der STADTZEITUNG Wuppertal gelesen habe.

Sie kenne seine Geschichte und habe ihn auf den Fotos wiedererkannt. „Das ist nicht meine Geschichte,“ habe er ihr geantwortet, „das war nur die Vorgeschichte.“

Und so erneuert AJ mir sein Versprechen, dass er mir seine ganze Lebensgeschichte erzählen wolle, sobald er eine Wohnung habe. „Da gibt es viel Trauriges, aber auch viel Schönes und Witziges zu erzählen,“ sagt er.

Zwei Frauen mit ganz großen Herzen. Sie versorgen Obdachlose ganz privat mit armen Mahlzeiten und Getränken – © Taro Kataoka

Ein Pärchen mit zahlreichen Brötchentüten kommt vorbei und drückt AJ eine davon ohne viele Worte in die Hand. Er bedankt sich und ist irgendwie sprachlos. Ich frage ihn, ob er Hunger auf etwas Warmes habe. 

„Ein Döner wäre nicht schlecht.“ Also gehen wir los und kaufen ein. Zurück an seinem Platz mache ich einige Fotos von ihm. Wieder das selbe Bild: Die Passanten nehmen kaum Notiz von ihm.

Dann kommen zwei junge Frauen auf Lastenfahrrädern vorbei. Eine von ihnen kenne ich vom letzten Sonntag. AJ ist noch vom Döner so satt, dass er keine Mahlzeit haben möchte. 

Doch die beiden Frauen lassen nicht locker: „Einen Kaffee oder Schokolade?“ Bei Schokolade kann AJ einfach nicht widerstehen. Ich komme währenddessen mit den Frauen ins Gespräch und erfahre, dass sie ganz privat obdachlose Mitmenschen versorgen. 

Sie haben weder einen Verein noch sonst eine Organisation gegründet, sondern helfen aus freien Stücken. Die „Weißen Herzen“ würden ihnen beim Ausfahren immer mal wieder helfen.

Eine Leserin der STADTZEITUNG Wuppertal und Bekannte von mir hatte sich angeboten, AJ mit Kleidung zu helfen. Er hat sich daraufhin eine wärmere Winterjacke gewünscht. Diese ist inzwischen auf dem Weg. 

Denn meine Bekannte hat sie im Internet bestellt, weil sie auf die Schnelle keine auftreiben konnte. Ich zeige AJ ein Bild dieser Jacke und die Beschreibung. Er ist hellauf begeistert und bedankt sich stellvertretend bei mir für das Geschenk. 

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und wieder merke ich, dass AJ so ganz anders ist, als ich mir einen obdachlosen Mitbürger vorgestellt hatte. Und so wundere ich mich nicht, dass AJ aufsteht und sagt, dass er nun nach Barmen fahren wolle, um eine Freundin im Krankenhaus zu besuchen.

Wir verabschieden uns – bis nächsten Sonntag.

Text: Taro Kataoka

 

AJ sitzt auf seinem Bett, auf dem er immer noch seine Nächte verbringen muß – um ihn herum seine Habseligkeiten – © Taro Kataoka

 

Über AJ alias Thomas

AJ alias Thomas, inzwischen 48 Jahre alt, hat eine sehr bewegte Geschichte hinter sich. Er wurde in Spanien geboren, kam er im Alter von einem Jahr nach Deutschland. Er verlor früh beide Elternteile und wuchs in Kinder- und Jugendheimen auf. Nach der Schule machte er eine Bäckerlehre.

AJ kam nie im normalen Leben an. Er geriet früh auf die schiefe Bahn, wurde immer wieder straffällig. Von Drogendelikten, über Körperverletzung bis hin zum Totschlag, was er heute zutiefst bereut.

Über dreißig Jahre seines Lebens verbrachte der gelernte Bäcker bislang im Gefängnis. Als er vor einigen Wochen aus der JVA entlassen wurde, stand er vor dem Nichts: Keine Wohnung, keinen Job, keine Perspektive.

Doch dank Menschen wie Taro Kataoka hat er neuen Mut geschöpft und ist jetzt fest entschlossen, seine Chance beim Schopf zu fassen!

 

Taro Kataoka – © privat

 

Über Taro Kataoka

Taro Kataoka – Jahrgang 1966 – ist japanisch-deutscher Abstammung, seit über 25 Jahren verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Nach der mittleren Reife an einer japanischen Schule, hat er zunächst die Fachoberschulreife, dann das Abitur an deutschen Schulen gemacht. Anschließend erlernte er den Beruf des Bankkaufmanns.

Taro Kataoka leistete Zivildienst und arbeitete einige Jahre bei einem japanischen Unternehmen. Anschließend studierte er Theologie. Nach zehn Jahren im Pastorenberuf begann er ein Fotodesign-Studium und schloß dieses mit dem Diplom ab.

Die Kamera ist seither sein ständiger Begleiter, zunächst meist nebenberuflich im Bereich der Eventfotografie. Inzwischen arbeitet er selbständiger Fotodesigner und betreibt ein eigenes Fotostudio. http://www.kataoka-fotografie.de/

Als interkulturell aufgewachsener Mensch ist Taro Kataoka an anderen Kulturen interessiert. Er lernt gerne neue Menschen kennen und tritt mit ihnen in Interaktion.

Als gläubiger Christ liebt er Gott, seine Nächsten und das Leben. Ein Beispiel dafür sind Hilfstransporte mit einem 40-Tonnen- Lkw nach Südost-Europa, die er ehrenamtlich unternimmt. Mindestens einmal im Jahr ist er unterwegs, um Menschen mit Lebensmitteln und Kleidung sowie weiteren Hilfsgütern zu versorgen.

Nicht zuletzt ist Taro Kataoka Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „Kinder-Tafel-Vohwinkel e.V., der die Kindertafel und den betreuten Spielplatz „Sternpunkt“ in Vohwinkel betreibt und betreut  http://www.kinder-tafel-vohwinkel.de

 

LESEN SIE AUCH – wenn SIE mögen:

Folge 1

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/01/mein-bewegendes-treffen-mit-einem-obdachlosen/

Folge 2

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/10/obdachloser-aj-sein-leben-unter-der-bruecke-die-fortsetzung/

Folge 3

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/19/obdachloser-aj-wohnung-und-job-in-aussicht/

 

Hilfsinitiative „WEISSE HERZEN Wuppertal“

https://weisseherzen.wixsite.com/wuppertal

Kommentare

Neuen Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert