25. März 2021Peter Pionke
Marcus Lindemann: Kein Fussball – ich leide mit meinem Sohn
Fussball ohne Zuschauer, ohne Pfiffe, Torjubel und Gesänge war auch für ihn gewöhnungsbedürftig. Wir haben uns darüber mit dem Wuppertaler Fussball-Reporter Marcus Lindemann unterhalten.
DS: Was war für Sie persönlich die größte Umstellung bei Ihrer Arbeit als Sky-Kommentator und Field-Reporter in Coronazeiten?
Marcus Lindemann: „Als ich vor einem Jahr das erste „Geisterspiel“ in der Geschichte der Bundesliga vom Spielfeldrand moderieren durfte – übrigens ohne Maske zu tragen und Abstände zu den Interviewpartnern einzuhalten -, dachte ich, dachten wir alle, dass wir es mit einer maximal einige Wochen andauernden Phase, keinesfalls aber mit einer monate-, vielleicht sogar jahrelangen Pandemie zu tun haben würden. Nun ist es, wie wir alle wissen, anders gekommen. Die Unterschiede sind vor allem physischer Natur. Moderationen, Interviews mit Maske zu führen, ist mitunter eine schwierigere Disziplin geworden – vor allem als Brillenträger. Die räumliche Nähe zu den Protagonisten fehlt enorm, und damit auch der kommunikative Austausch vor und nach den Spielen.“
DS: Wie stimmt man sich auf ein Spiel ein, bei dem es keine Zuschauerreaktionen gibt?
Marcus Lindemann: „Die Zuschauer, die Fans, die Stimmung auf den Rängen, die unmittelbaren Reaktionen auf das sportliche Geschehen auf dem Rasen – das alles vermissen ja nicht nur die Reporter. Was die Vorbereitung angeht, hat sich nichts verändert. Klar, es brauchte eine Zeit der Anpassung, der Akklimatisierung auf die veränderte Situation. Aber ein 0:0 zwischen Bielefeld und Bremen an einem kalten Freitagabend ist auch mit Zuschauern nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig.“
DS: Wird der Profi-Fussball nicht ein Stück weit entzaubert, wenn man jetzt hautnah miterlebt, wie hochbezahlte Profi-Spieler und Trainer so herumbrüllen wie man es sonst nur bei Kreisliga-Spielen gewohnt ist?
Marcus Lindemann: „Aus meiner Sicht gibt es diesbezüglich keine großen Unterschiede. In der Kreisklasse wird eben genauso gebrüllt wie in der Königsklasse. Dort ist allerdings womöglich der Sprachgebrauch ein Stück weit internationaler. Ernsthaft: Kommunikation in ihrer ganzen Bandbreite, von taktischen Anweisungen bis hin zum „Trash Talk“, gehört einfach dazu.“
DS: Glauben Sie, dass Schmerzensschreie, die jetzt besonders laut durchs Stadion hallen, von den Spielern ganz gezielt eingesetzt werden, um den Schiedsrichter zu beeinflussen?
Marcus Lindemann: „Die Klaviatur der Einflussnahme ist ja durchaus sehr vielschichtig: Schreierei, Schauspielerei, fünffache „Neymar-Rollen“, etc., um den Schiedsrichter zu beeinflussen. Auch das gehört leider dazu, übrigens Liga übergreifend. Aber es ist ja so: Wenn sich da einer am Boden krümmt, sich nach einem Tritt vors Schienbein anschließend das Gesicht hält, das bekommen die Schiedsrichter schon mit, spätestens nach Intervention des VAR. Eine Zunahme der Manipulationsversuche in der Zeit der Geisterspiele habe ich aber nicht beobachtet.“
DS: Viele Fussball-Fans fragen sich, warum Sie als Kommentatoren eine Maske tragen, obwohl Sie sich im Freien befindet und es weit und breit keinen Zuschauer gibt?
Marcus Lindemann: „Eine Maske trage ich beim Kommentieren nur in der sogenannten „On-Position“, d.h. vor der Kamera zur Begrüßung und Verabschiedung der Zuschauer. Während des Kommentars darf ich die Maske abnehmen, weil ich in einer Art „Aquarium“ sitze, ein spucksicherer Plexiglaskäfig. Das hat mitunter den Nachteil, dass die Sicht eingeschränkt ist, falls das Teil zuvor nicht ordentlich gesäubert wurde. Als Moderator/Interviewer in der Nähe des Spielfeldrandes dagegen bin ich angehalten, die Maske dauerhaft zu tragen. Auf der Position halte ich mich allerdings nicht alleine auf. In dem Bereich sind Kollegen von anderen Sendern und Mitarbeiter der Produktion, wie Kamera- und Tonkollegen, etc. Dort halte ich das Tragen der Maske und Abstandsregeln einzuhalten für durchaus sinnvoll.“
DS: Werden Sie zur Zeit möglichst in der Nähe Ihres Heimatortes eingesetzt, um Ihnen weite Anfahrten und Hotel-Aufenthalte zu ersparen, zumal ja viele Hotels ja ohnehin geschlossen sind – oder läuft diesbezüglich alles wie gehabt?
Marcus Lindenmann: „In Freiburg am vergangenen Wochenende war ich den Alpen fast näher als dem Bergischen Land. Da musste ich schon zusehen, dass ich den letzten Zug in Richtung Heimat nicht verpasse. Das sind allerdings die Ausnahmen. In der Regel achtet mein Chef schon darauf, mich vor allem in NRW einzusetzen – das hilft ganz nebenbei ja auch dem Sender Reisekosten zu einzusparen.“
DS: Sie waren selbst ein erfolgreicher Amateur-Fussballer und können sich sicher in diese hineinversetzen. Seit Monaten kein Training, kein Spiel, keine Erfolgserlebnisse und kein Ende in Sicht. Wie fühlen sich diese Kicker?
Marcus Lindemann: „Erfolgreich? Nun ja, ich glaube, ich bin zweimal in die Kreisliga abgestiegen, habe es bis maximal in die Landesliga geschafft. Aber es war eine sehr, sehr schöne, viel zu kurze Zeit. Jedoch musste ich mich früh entscheiden: Selbst kicken oder über die Kicker zu berichten. Derzeit leide akut ich mit meinem Achtjährigen. Der kleine Kerl hat im zweiten Jahr seiner F-Jugend-Zeit bis heute noch nicht ein einziges Spiel gegen eine andere Mannschaft absolvieren dürfen. Zuletzt wurde das Training wieder zugelassen, um diese absolut notwendige Lockerung nach zehn Tagen wieder einzukassieren. Mein Sohn ist in dieser Trainingswoche regelrecht aufgeblüht, war glücklich, sich nach Monaten wieder mit gleichaltrigen Kickern messen zu dürfen. Das alles übrigens auf der Grundlage eines sorgfältig ausgearbeiteten, schlüssigen hygienischen Konzeptes. Dieses Vereinstraining nun wieder zu untersagen, halte ich für verantwortungslos und keinesfalls zielführend.“
DS: Können Sie sich überhaupt eine Fussball-EM in leeren Stadien vorstellen?
Marcus Lindemann: „Selbstverständlich, was nicht zwangsweise bedeutet, dass ich Verständnis dafür hätte, wenn die EM plangemäß in zwölf verschiedenen Ländern ausgetragen werden würde. Nicht vorstellen kann ich mir übrigens eine weihnachtliche Wüsten-WM in anderthalb Jahren, begründet auf Schweiß und vor allem Blut von hunderten mit einem Hungerlohn abgefundenen Arbeitern, die unter widrigsten, menschenverachtenden Umständen ihr Leben riskiert, mitunter sogar verloren haben. Aber das ist ein ganz anderes Thema.“
DS: Wie sehen Sie als Fußball-Experte die Entscheidung von Jogi Löw, nach der WM Schluß zu machen?
Marcus Lindemann: „Ich halte seine Entscheidung für nachvollziehbar, durchaus mutig und vor allem für selbstbestimmt. Löw wird all seinen Ehrgeiz, all seine Energie darauf verwenden, mit einem Titel abzutreten. Und für den DFB bietet sich ein großzügiger Rahmen, in dem der Verband in Ruhe und mit großer Sorgfalt ohne allzu großen Zeitdruck die Nachfolge regeln kann.“
DS: Was wird Ihrer Meinung nach am Ende im Fussball von der Pandemie nachhaltig übrig bleiben – oder glauben Sie, alles wird wieder so wie vor Corona sein?
Marcus Lindemann: „Vielleicht die Möglichkeit der Trainer, fünf Wechsel pro Spiel vornehmen zu dürfen. Im Ernst: Nach dem Suizid von Robert Enke haben sich sämtliche am Fußball beteiligten Player darauf verständigt, zukünftig empathischer, respektvoller miteinander umzugehen. Wie lange hat es gedauert, bis in den Stadien wieder verunglimpft, beschimpft, rassistisch und homophob beleidigt wurde? Nicht allzu lange! Von daher bin ich äußerst skeptisch, dass die derzeitige Krisensituation einen Paradigmenwechsel im Fußball befeuern wird. Die nachhaltigen wirtschaftlichen Auswirkungen bleiben abzuwarten. Aber auch diesbezüglich bin ich eher pessimistisch, ob sich etwa an den teils astronomischen Ablösesummen und Gehältern (Stichwort „salary cap“) Entscheidendes verändern wird.“
DS: Last but not least: Wer wird Europameister?
Marcus Lindemann: „Meiner Argumentation zum Thema Löw folgend: Deutschland!“
DS: Vielen Dank für das informative, interessante Gespräch
Das Interview führte Peter Pionke
Vita
Marcus Lindemann wurde 1966 in Wuppertal geboren. Nach dem Abitur am Gymnasium Bayreuther Straße absolvierte er ein Studium an der Sporthochschule Köln.
Er arbeitete als Sportredakteur beim Remscheider Generalanzeiger, wechselte später zu Radio Wuppertal, wo er zur Gründungsmannschaft gehörte.
Anschließend ging er als Sportreporter zum WDR. Hier kommentierte er neben Fussball auch Tennis. Seit 1999 ist Marcus Lindemann festes Mitglied im Kommentatoren-Team von Premiere – heute SKY.
Seine Hobbies: Laufen, Rad-fahren und Schwimmen. Marcus Lindemann ist mit der Grundschullehrerin Nicole Lindemann verheiratet. Gemeinsam haben sie zwei Kinder: Ava und Ben.
Sein Lieblingsverein: Borussia Mönchengladbach.
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