25. Juli 2021

Geschichte ohne Happy End: AJ lebt wieder auf der Strasse

Es gibt Lebensgeschichten, die trotz guter Voraussetzungen kein Happy End haben. Eine solche scheint die Vita des obdachlosen AJ alias Thomas zu sein. Der Foto-Designer und ehemalige Pfarrer Taro Kataoka hatte ihn per Zufall auf der Platte kennen gelernt. Das Schicksal des Ex-Häftlings berührte ihn zutiefst. Über Monate begleitete er AJ auf dem Weg zurück in die Gesellschaft. Vergeblich. AJ lebt wieder auf der Strasse. Am Ende ist es eine traurige Geschichte!

Ein trauriges Bild: AJ lebt wieder auf der Strasse und bettelt um Geld – © Taro Kataoka

Es hatte alles so verheißungsvoll begonnen: Ein Praktikumsplatz, eine Wohnung, ein warmes Bett, ein eigenes Bad, ein Fernseher. Dafür ist AJ aus Wuppertal weggezogen. Damit ging einher, dass die Jobcenterleistungen aus Wuppertal eingestellt wurden und alles in Schwelm neu beantragt werden musste. 

Bis heute – also seit Ende Mai – ist die Leistung nicht bewilligt. Immer wieder werden neue Unterlagen angefordert. Es ist schwieriger als in Wuppertal.

Im Praktikum hatte AJ leichtere Tätigkeiten zu erledigen. Doch schon nach wenigen Tagen hatte er Blut im Urin und immer wieder Rückenschmerzen. Leider waren seine Schilderungen und sein Verhalten nicht sonderlich glaubwürdig und seine Art zu kommunizieren wenig hilfreich. 

So waren seine Beschwerden immer wieder schlagartig verschwunden und seine Mitteilungen an den Arbeitgeber kamen, wenn überhaupt, viel zu spät. Sein Handy hatte er zudem verloren, weswegen er sich nicht mehr ohne weiteres melden konnte. 

Dennoch durfte er sein Praktikum weiter machen. Doch dann erschien er eines Tages nicht mehr und war nicht mehr in seiner Wohnung anzutreffen. Tage später erhielt ich aus Wuppertal einen Anruf von AJ. Er sei auf dem Weg in ein Krankenhaus, um seine Rückenbeschwerden behandeln zu lassen. 

Auch das Dach über dem Kopf verloren

Doch auch diese Geschichte entpuppte sich nicht glaubwürdig. Denn ohne Krankenversicherung ist es kaum möglich, sich in einem Krankenhaus behandeln zu lassen. 

AJ behauptete, als ich uhn dann doch noch einmal in seiner Wohnung antraf, er sei in einem Krankenhaus aufgenommen worden und man habe eine Röntgen-Aufnahme von seinem Rücken gemacht. Er habe die Klinik verlassen, um etwas Kleidung zu holen und um sich etwas zu essen zu besorgen, da die Mahlzeiten dort zu karg seien. Umgehend habe ich ihn zurück in die Klinik gefahren. Doch dort war er nicht registriert. 

Stattdessen hieß es in der Notaufnahme, dass er ohne Krankenversicherung einen Vorschuss von € 100 leisten müsse. Ich habe AJ dann für einige Tage aus den Augen verloren. Er wurde zwar in der Elberfelder Fußgängerzone gesichtet, doch als ich dort eintraf, war er nicht da. Einige Tage später hatte er seinen Praktikumsplatz endgültig verloren. Auch die damit verbundene Wohnung war nun weg. 

Denn der Vermieter wollte so schnell wie möglich die Schlüssel zurück, zumal AJ es wiederholt versäumt hatte, die Terrassentür in Abwesenheit geschlossen zu halten. Doch AJ war verschwunden. 

Als ich dann auf Verdacht durch die Elberfelder Fußgängerzone ging, um ihn anzutreffen, kam er mir irgendwann entgegen. Er war Pfandflaschen sammeln. Auf seine Situation angesprochen, schien er recht gleichgültig und leer. Ihn plagen noch immer Rückenschmerzen, erklärte er. 

Die Wohnungsschlüssel händigte er mir anstandslos aus. Er übernachte inzwischen wieder auf der Straße und könne seine Sachen bei einem Bekannten im Keller unterbringen.

AJ in den Mühlen der Bürokratie

So steht es nun um AJ: Er hat alles gehabt und alles wieder verloren. Und wie finde, sehr leichtfertig verloren. Sicherlich ist die extrem schleppende Bürokratie des Jobcenters nicht dienlich gewesen. 

Aber AJ hat sich nicht an die einfachsten Regeln gehalten, die in einem geregelten Leben nun einmal einzuhalten sind. Nun bleibt nur zu hoffen, dass ihm endlich die Jobcenterleistungen für Juni gewährt werden. Denn mit der Rückkehr nach Wuppertal heißt es nun wieder: Alles auf Null, alles wieder von vorne beantragen. Ein finsterer, trostloser Kreislauf.

Mein persönlicher Dank geht an alle, die sich in den letzten Wochen nach AJ’s Befinden erkundigt haben, an die vielen, die ihm mit Sach- und Geldspenden das Überleben ermöglicht haben. Ganz besonders danke ich seinem Praktikumsgeber, der AJ so lange und so geduldig unterstützte, um ihm die Chance zu geben, den den Weg zurück in ein geregeltes Leben zu gehen. Eine Chance, die AJ letztendlich nicht genutzt hat.

AJ hatte letzte Woche Geburtstag. Er saß in der Elberfelder Fußgängerzone, vor ihm ein Pappbecher – er bettelt wieder so wie früher. Doch er ist schweigsam geworden. Sein einziger Wunsch derzeit ist es, endlich in ein Krankenhaus zu kommen. Ich wünsche ihm alles Gute und baldige Genesung. 

Ganz sicher benötigt AJ mehr als nur ärztliche Hilfe. Der Weg aus der Obdachlosigkeit heraus in ein geregeltes Leben ist allem Anschein nach äußerst steil und steinig.

Inzwischen ist der „Bescheid über die Versagung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)“ eingegangen. Es fehlen schlicht Unterlagen von einigen Stellen, die trotz der Dringlichkeit, keine Notwendigkeit sehen, AJ Anfragen zu beantworten. 

Es sei, so das Jobcenter Schwelm, zumutbar gewesen, fristgerecht die Unterlagen beizubringen. Ich frage mich, in welcher Welt wir leben. 

Allen Stellen ist bekannt gemacht worden, dass AJ Fristen einzuhalten hat und dass es um Jobcenterleistungen geht. Aber offensichtlich ist niemand wirklich daran interessiert, Obdachlosen Leistungen zu gewähren, die ihnen zustehen. 

Ich zumindest habe den Glauben an unseren Sozialstaat verloren!

Taro Kataoka

 

Gut gelaunt: AJ (l.) und sein Chef Thomas Lange – © Taro Kataoka

AJ: Es ist gar nicht so einfach, ein normales Leben zu beginnen

Es ist Dienstag, der 25.05.2021. Ich bin mit AJ um 7 Uhr morgens an seinem Schlafplatz in Wuppertal-Elberfeld verabredet. Doch ich bin bereits um viertel vor sieben dort, weil ich AJ mit der Videokamera überraschen will. Leise baue ich alles auf. Noch höre ich nichts von AJ. Dann stelle ich fest, dass er seinen Schlafplatz längst verlassen hat. 

Minuten vergehen und ich beginne mir ab sieben Uhr Sorgen zu machen. Wo könnte er stecken? Dann gegen viertel nach sieben, taucht er völlig verschwitzt auf. Er habe Magenprobleme und sei bereits um drei Uhr in der Nacht wach geworden. Hastig zieht er seine neue Arbeitshose an. 

Dann tritt er vor die Kamera und sagt nachdenklich: „Tja, heute ist der Tag, an dem ich mein so genanntes freilebendes zu Hause verlasse. Und ich muss sagen, die Monate, die ich hier war, waren angenehm, waren nicht schlecht. Aber heute geht der Tag des Lebens wieder los, mit Arbeiten, mit allem Drum und Dran. Und da freue ich mich schon drauf. – Das war mein Leben in der Wildnis.“

Ernüchterung nach der Begeisterung

Gemeinsam fahren wir nach Sprockhövel zum Steinbruch. Wir kommen überpünktlich an und sind froh, dass Langes schon da sind. Es ist für beide Parteien ein spannender Moment, doch beide sind zuversichtlich.

Und dann wird ihm seine heutige Arbeit erklärt. Er soll 5 kg Basaltgranulat abwiegen, in Beuteln verschweißen und etikettieren. Voller Elan und mit Begeisterung macht sich AJ an sein Tagewerk. „Wer gut ist, schafft es am Tag, den Bigpack leer zu machen,“ sagt Thomas Lange. Mal schauen, wie weit AJ kommt. Ich verabschiede mich und verspreche, um 16 Uhr zurück zu kommen.

Als ich AJ wieder antreffe, ist sein Elan und seine Begeisterung einer Ernüchterung gewichen. Nach acht Stunden Arbeit schmerzt ihm der Rücken und er ist richtig fertig. „Tu mir den Gefallen und bring mich für die nächsten Tage zurück nach Elberfeld. Ich muss nachdenken. Das hier geht mir alles zu schnell. Ich habe mich überschätzt. Ich habe dreißig Jahre nicht richtig gearbeitet,“ vertraut er sich mir an. 

AJ bei der Arbeit: Er füllt Basaltgranulat in 5-Kilo-Säcke – © Taro Kataoka

Ich erfahre, dass ihm angeraten worden ist, Pausen einzulegen und sich nicht zu überfordern. Er solle auf seinen Rücken achten. AJ ist richtig nachdenklich, unruhig und fix und fertig. Zum Glück nimmt er meinen Rat an, sich zunächst seine vorübergehende Unterkunft anzuschauen. Es ist eine wunderbare Wohnung, zwar völlig leer, aber warm und trocken. 

AJ fällt die Ruhe auf. Eine große Matratze wird noch herbei geschafft, damit er nicht so hart liegen muss. Auf die Frage, ob er noch etwas brauche, bittet er um einen Fernseher, da er ohne Geräuschkulisse kaum einschlafen könne, immerhin habe er 14 Monate an einer gut befahrenen Straße gelebt. 

Er hat Glück und erhält einen ausrangierten Fernseher. Meine Frau hat AJ ihr altes Smartphone überlassen. Nun ist er telefonisch erreichbar und kann auch selbst telefonieren.

Der nächste Morgen. Ich erhalte eine SMS und erfahre, dass AJ nicht zur Arbeit gegangen, sondern nach Wuppertal gefahren ist. Er wolle seine Medikamente und noch einige Sachen abholen und sich bei der Diakonie melden.

AJ fühlt sich überfordert

Ich bitte ihn, so schnell wie möglich zur Arbeit zu fahren, da er an der Steinsäge angelernt werden soll. Dann ein Anruf vom Steinbruch. AJ habe sich erst nach über einer Stunde nach Arbeitsbeginn per SMS gemeldet. Darauf rufe ich AJ an und ermahne ihn eindringlich, binnen einer Stunde auf der Arbeit zu erscheinen. 

AJ sagt es mir zu. Doch es kommt anders. Er meldet sich gegen 15 Uhr, zwei Stunden vor Feierabend und meint, dass er heute nicht mehr „rausrücke“. Ich mache mich sofort auf den Weg und hole ihn zu Hause ab und fahre mit ihm zum Steinbruch. 

Unterwegs erläutere ich ihm, dass er früher und klarer kommunizieren müsse. Einfach von der Arbeit wegzubleiben gehe nicht. Am Steinbruch angekommen, treffen wir sichtlich enttäuschte und äußerst nachdenkliche Arbeitgeber an. 

Sie reden ihm eindringlich zu, sich künftig wesentlich früher zu melden und Klartext zu reden. Morgen solle er pünktlich erscheinen. Ich bin sehr dankbar, dass AJ so glimpflich davon gekommen ist, ist es doch überhaupt nicht selbstverständlich, dass jemand so sozial und einfühlsam reagiert. 

Sogar Busgeld hat er erhalten. Zurück in seiner Unterkunft, richte ich AJ den Wecker an seinem Smartphone ein und zeige ihm die nächste Bushaltestelle. Ich bitte ihn nachdrücklich, seine Chance des Lebens zu nutzen.

AJ in seiner neuen, trockenen Unterkunft – © Taro Kataoka

Der dritte Tag. AJ meldet sich telefonisch und berichtet, dass er pünktlich die Bushaltestelle erreicht und frühzeitig beim Steinbruch angekommen sei. Nach Rücksprache habe er für den Rest der Woche sechs Arbeitsstunden ausgehandelt. 

Den Nachmittag verbringt er erneut in Elberfeld. Er hatte einem Junky 20 Euro geliehen, die er nun zurück holen wolle. Abends erfahre ich, dass er sein Geld nicht zurück erhalten hat, da der Junky nicht erschienen sei. Zwölf Euro Fahrtkosten hat er ausgegeben, für nichts. 

Und sein Vierfahrtenticket hat er auch verloren. Ich bin entsetzt und kann mich nur schwer zurückhalten, um meinem Unmut nicht freien Lauf zu lassen. Also reden wir miteinander, so ruhig wie es geht. Es gelingt uns und AJ begreift, dass er viel besser auf die wesentlichen Dinge seines neuen Lebens achten muss: Busticket, Lebensmittel, Getränke. 

Außerdem habe ich ihm die drei Tugenden, die von ihm erwartet werden, noch einmal eingeschärft: Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und Fleiß.

AJ tut sich schwer mit dem rasanten Wechsel, den sein Leben erfahren hat. Er spürt, dass er noch lange nicht am Ziel ist, es aber vor Augen hat. Er sagt: „Ich freue mich auf die Arbeit morgen früh.“ 

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer

Ich entgegne ihm: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.“ Doch ich bleibe hoffnungsvoll, dass er es schaffen kann. Er wird aber noch eine ganze Weile Begleitung brauchen.

Wir verabreden uns zum Telefonat morgen früh und dann zu einem ersten Interview zu seiner Lebensgeschichte am Samstagvormittag.

Samstag, 29.05.2021. Wie besprochen, besuche ich AJ. Er hat sich den Kopf rasiert und den Bart gestutzt. So fühle er sich pudelwohl und es steht ihm. Ich berichte ihm vom gestrigen Telefonat mit dem Jobcenter. Durch seinen Einzug in eine Wohnung, die nicht in Wuppertal ist, ist nun ein anderes Jobcenter zuständig. 

Das bedeutet, dass alle Anträge für Jobcenterleistungen neu gestellt werden müssen und bis zur Bewilligung vier bis sechs Wochen vergehen können. Daran hängt sehr viel: Eine eigene dauerhafte Wohnung, das Sozialticket und die Jobcenter-Unterstützung für seinen Arbeitgeber. 

Ich habe erwartet, dass AJ frustriert reagiert, doch er nimmt es gefasst auf. Am gestrigen Freitag habe ich von einer Bekannten einen Umschlag für AJ erhalten. Darin ein sehr liebevoller, handschriftlicher Brief mit mutmachenden Worten und genug Geld, dass AJ mal wenigstens eine Woche leben kann. 

AJ: Neues Leben, neues Outfit – © Taro Kataoka

Er ist überrascht und nachdenklich erfreut, dass ihm von völlig unbekannter Seite derart geholfen wird. Wir fahren umgehend einkaufen, da AJ weder Brot, noch Bustickets hat. Er bemerkt, dass er unbedingt lernen muss, hauszuhalten. Dafür habe ich ihm ein Haushaltsbuch erstellt und AJ trägt fortan alle Einnahmen und Ausgaben darin ein.

Den weiteren Vormittag verbringen wir mit den ersten Aufnahmen seiner Lebensgeschichte. Er hat nur über seinen Werdegang berichtet – eine bewegende und traurige Geschichte. Nach einer Stunde beenden wir die Aufnahme. Demnächst setzen wir sie fort.

AJ freut sich sehr, dass er ein sonniges Wochenende in einer sehr ruhigen Gegend verbringen darf. Es ist ein völlig neues Lebensgefühl für ihn. Und er freut sich auf die kommende Woche. Denn die Arbeit macht ihm wirklich „richtig Spaß“.

Taro Kataoka

 

Obdachloser AJ: Sein letzter Tag auf der Straße

AJ schlägt ab heute ein neues Buch auf – © Taro Kataoka

„Es ist Pfingstmontag. Den dritten Tag in Folge besuche ich AJ. Die letzten beiden Tage haben wir mit Videoaufnahmen verbracht (danke Peter Pionke für die Anregung). Dabei haben wir verschiedene Stellen angelaufen, die in den letzten vier Monaten im Leben von AJ bedeutsam gewesen sind. Heute nun AJ’s letzter Tag auf der Straße. 

Denn ab Dienstag (25.05.) wird AJ arbeiten und anderweitig untergebracht sein. Wir genehmigen uns einen Kakao bzw. Kaffee und halten Rückschau. Was sich doch in den letzten vier Monaten getan hat. 

Angefangen von regelmäßigen Berichten in der STADTZEITUNG Wuppertal, über materielle Zuwendungen hier und da, Rat und Hilfe von Bekannten, anwaltlichem Beistand, Zusammenarbeit mit Sozialarbeiterinnen, bis schließlich einer Arbeitsstelle. Und das alles, weil AJ Ende Januar „Ja“ zu einem Portrait gesagt hatte. Wir beide sind erstaunt und zutiefst dankbar.

Neben AJ liegen einige Traktate mit christlichen Inhalten. Als Theologe erwecken sie mein Interesse, doch schnell bin ich von der aufdringlichen und suggestiven Schreibart enttäuscht. Auch AJ nimmt eines davon in die Hand und liest es sich durch, meint aber, dass es ihm nichts gebe. Und doch kommen wir ins Gespräch. Denn AJ ist religiös interessiert. 

AJ „geniesst“ förmlich seinen letzten Tag auf der Platte – © Taro Kataoka

Wir haben uns eine Pizza bestellt und unterhalten uns weiter, während wir sie auf der Straße verzehren. Im Fernsehen habe er sich schon so manche Dokumentation über diverse Religionen und Kulturen angesehen. Während des Gesprächs merke ich allerdings, dass er noch nicht weiß, was alle Religionen gemeinsam haben. 

Der Mensch stehe in der Pflicht, durch gute Leistungen seinen strafenden Gott zu besänftigen, damit er in den Himmel kommen könne, erkläre ich ihm. Ganz gleich, ob es Almosen, Nettigkeiten oder das Einhalten von Fastenzeiten sind, stets gehe es um Werke, die erwartet werden, damit sich die Lebensbilanz wenigstens ausgewogen darstelle, besser noch zu Gunsten des Menschen, damit er in den ersehnten Himmel gelange. 

Dagegen sei die Richtung im christlichen Glauben andersherum: Gott kommt zum Menschen und bietet ihm den Himmel an. Jesus Christus steht für den liebenden Gott, der es kaum erwarten kann, jeden Menschen zu sich aufzunehmen. Es ist ein Geschenk, das ohne vorherige Leistung angeboten wird. 

AJ grübelt und versteht nicht so richtig. Also frage ich ihn, wie er es finden würde, wenn ich ein Geschenk von ihm bezahlen wollte. Jetzt ist AJ erst recht irritiert und meint: „Das würde ich ohne wenn und aber ablehnen, weil es ja ein Geschenk für dich ist. Dafür will ich nichts haben.“ 

Allmählich begreift AJ den entscheidenden Unterschied und sagt: „Ein Geschenk nehme ich dankend an oder lehne es direkt ab. Aber eine Gegenleistung ist unhöflich und beleidigend.“

Heute wird AJ die letzte Nacht auf der Straße verbringen. Seine Unterkunft, die er bislang als „Sommerresidenz“ behalten wollte, will er „Ice“, einem Junky, überlassen. 

AJ bricht seine Zelte in Elberfeld ab und beginnt Dienstagmorgen um 7:00 Uhr ein neues Buch. Er kann diesen Moment kaum abwarten. Wir verabschieden uns. 

Ich habe versprochen, ihn morgens pünktlich an seinem Schlafplatz abzuholen. Und treffe dann hoffentlich auf einen gut gelaunten, bestens

ausgeschlafenen AJ. Seine Sachen habe ich bereits am Pfingstmontag in mein Auto gepackt, damit wir morgens ohne viel Aufwand los kommen.

Hiermit endet die Chronik über einen Obdachlosen aus Wuppertal-Elberfeld. Ab morgen beginnt AJ ein neues Buch und eine neue Chronik. Und es bleibt spannend. Er hat zwar jetzt erst einmal eine Unterkunft, muss sich auf Dauer aber doch noch eine Wohnung suchen.

Und er hat noch etliche Behördengänge vor sich, ganz zu schweigen vom neuen Lebensrhythmus., den er erst noch finden muss. Zudem möchte er seine bewegte Lebensgeschichte schriftlich festhalten. Wir bleiben also in Kontakt.“

Taro Kataoka

 

AJ freut sich auf seine erste Schicht im Steinbruch

AJ (l.) lernt eine Kollegin und einen Kollegen kennen und wird seinem neuen Chef Thomas Lange (r.) eingewiesen – © Taro Kataoka

„AJ hat Arbeit! Es ist Freitagmittag (21.05.). Wir fahren nach Sprockhövel zum Steinbruch Lange. AJ ist die Anspannung abzuspüren. Wind weht über das staubige Gelände und lässt uns unsere Augen zukneifen. Wir werden freundlich von der Familie Lange empfangen und erhalten erst einmal einen Kaffee.

Thomas Lange bietet AJ direkt das Du an, weil alle auf dem Hof per Du sind. Dann zeigt er uns den Steinbruch und erzählt AJ ausführlich, was es mit dem Gelände auf sich hat. „Hier entsteht der Kohleflöz des Ruhrgebiets,“ berichtet er und AJ hört ihm aufmerksam zu. Neben den unfassbar vielfältigen Gesteinsarten erhält AJ Einblick in die mannigfaltigen Arbeitsbereiche in diesem Steinbruch.

Gestein brechen, transportieren, sortieren, sägen und polieren, sind nur einige Tätigkeiten. Hier werden Pizzasteine hergestellt, Futterstationen für Hunde und natürlich Steinplatten für alle möglichen Bereiche im und am Haus. „Bei uns muss jeder alles können,“ sagt Thomas Lange.

Thomas Lange zeigt AJ seinen neuen Arbeitsplatz im Steinbruch – © Taro Kataoka

Thomas Lange hat mit seinem Betrieb schon so manchem Hilfsbedürftigen geholfen und kennt sich mit dem schwierigen Weg aus der Arbeitslosigkeit heraus aus. „Jeder soll eine Chance bekommen. Und bevor ich versuche, die Welt zu retten, schaue ich, wo ich vor meiner Haustür helfen kann,“ sagt er und schaut AJ dabei freundlich an.

Von ihm erwartet er Arbeitswillen und die Tugenden Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und Fleiß. „Wenn du kannst und willst, kannst Du am Dienstag um 8 Uhr anfangen,“ offeriert er ihm.

AJ ist sprachlos und bekommt kaum ein „Ja“ heraus. Selbst eine Unterkunft wird ihm in Aussicht gestellt. Doch hierzu muss erst das Jobcenter angesprochen werden. Das werde ich am Dienstag erledigen. Zudem benötigt er noch Arbeitskleidung und Sicherheitsschuhe. Beides besorgen wir auf dem Rückweg nach Wuppertal.

Nun steht AJ ein langes Wochenende bevor. Hoffentlich sein letztes Wochenende auf der Straße! Seinen Schlafplatz unter der Brücke will er einem obdachlosen Kumpel übergeben. Eine gute Tat als neues altes Mitglied der Gesellschaft.“

Taro Kataoka

AJ schwebt auf Wolke 7 – er hat endlich einen Job

AJ ist überglücklich: Er hat einen Job und wahrscheinlich auch eine Unterkunft – © Taro Kataoka

Taro Kataoka berichtet: „AJ schwebt auf Wolke sieben. Es ist Donnerstagabend (20.05.). Ich erhalte einen Anruf von Thomas Lange (www.splittprofi.de), den ich im Unternehmernetzwerk www.fair-dienen.net kennen gelernt hatte. Er hat die Geschichte um AJ von Anfang mitverfolgt und ihm sofort Arbeit angeboten, wenn er kann und will. 

Jetzt bekommt er von Thomas Lange die Chance, schon am nächsten Tag bei ihm anzufangen. Ich berichte ihm, dass AJ noch keine Wohnung hat und wohl kaum jeden Morgen von der Straße aus zur Arbeit gehen könne. 

Doch Thomas Lange hat auch für diese Problem eine Lösung. Sein Vorschlag: Er würde versuchen, AJ in einer nahe am Steinbruch gelegenen Monteursunterkunft unterzubringen und er wolle sich auch an den Kosten beteiligen.

Ich erzähle dies meiner Frau. Sie bekommt bei der Nachricht feuchte Augen – es sind Freudentränen. Ich will mich sofort zu AJ aufmachen, um ihm die frohe Botschaft zu überbringen. Meine Frau gibt mir eine Schachtel Schokolade für AJ mit, auf der „Glückwunsch“ steht.

Ein süßer Glückwunsch für AJ – © Taro Kataoka

Ich finde AJ an seinem Schlafplatz. Als ich ihm all das berichte, ist er sprachlos vor Glück. „Ich habe Arbeit! Ich darf endlich wieder arbeiten,“ sagt er und reckt seine Arme in den Himmel. 

„Das ist die beste und schönste Nachricht, die ich nach dem Tod meiner Mutter, der mich tief getroffen hat, erhalten habe,“ sagt er und strahlt über das ganze Gesicht. 

Er freut sich und findet kaum Worte, umarmt mich und bittet mich gleichzeitig, ihn zu boxen, damit er spürt, dass alles wahr ist.

AJ und ich werden gemeinsam nach Sprockhövel fahren, damit er sich bei Thomas Lange vorstellen kann.“

Taro Kataoka

Mit dem ersten Geld vom Amt hat AJ seine Schulden beglichen

Hat jetzt gut lachen: AJ (l.) mit dem Foto-Designer Taro Kataoka, seinem zuverlässigen Unterstützer – © Ina Felgenhauer

„Etappensieg! AJ geht jetzt regelmässig zur Bank und schaut nach, was sich auf seinem neu eröffneten Konto tut. Sein Guthaben betrug bisher gerade eben so viel, dass die Kontoführungsgebühren gedeckt waren. Doch diese wurden zum Glück für ihn schon seit Wochen nicht abgebucht. 

Jetzt hat sich etwas getan, womit er wirklich nicht rechnete. Er traute seinen Augen kaum. Das Jobcenter hatte ihm Leistungen ausgezahlt. Das Geld war da, noch bevor er überhaupt einen Bescheid erhalten hatte. AJ konnte sein Glück kaum fassen. 

Stolz hob er einen kleinen Geldbetrag ab. Aber er wollte sich davon nicht etwa irgendetwas kaufen, auch wenn es ihn nach harten, entbehrungsreichen Zeiten verständlicherweise gereizt hat. 

Er nutzte das Geld – sein Geld – um damit zahlreiche Kleinstschulden zu begleichen. Immer wieder hatte er sich hier und da kleine Beträge geliehen, um überhaupt über die Runden zu kommen. 

Seit gestern ist er „schuldenfrei“. Voller Glück und Zufriedenheit zeigte AJ mir die aktuellen Kontoauszüge. Er bat mich, diese für ihn abzuheften. Diesen Gefallen tue ich ihm natürlich sehr gerne.

Ich freue mich aufrichtig mit ihm und bin sehr dankbar für die rasche Auszahlung. Danke, Jobcenter Wuppertal. 

Nun hoffe ich, dass AJ zu haushalten weiß, denn der Monat ist noch lang. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er das schaffen wird. 

Jetzt kann AJ sich intensiv um eine Unterkunft kümmern. Er hat den Kopf deutlich freier. Er wird nur noch solange an seinem Stammplatz anzutreffen sein, bis er eine Arbeit und eine Unterkunft gefunden hat.“

Taro Kataoka

AJ blickt mit guter Laune und viel Humor in die Zukunft

AJ als „Fotomodel“ in der Wupper – © Taro Kataoka

Taro Kataoka berichtet von seinem nächsten Treffen mit AJ: „Ich treffe heute einen bestens gelaunten AJ an. „Du musst einfach heute Fotos von mir an der Wupper machen,“ sagt er lächelnd. In den letzten Tagen sei er von einer Gruppe Passanten angesprochen worden, die seine Geschichte verfolgen würden. Sie seien sehr gespannt, wie es weiter geht.

Also sind wir ans Islandufer gegangen, wo Gesteinsbrocken bis mitten in die Wupper hineinragen. AJ hat konkrete Vorstellungen, wie seine Fotos aussehen sollen. Und so haben wir die trockene Stunde für ein Fotoshooting genutzt und zahlreiche Bilder gemacht. 

Es ist so erfrischend gewesen, einen so gut gelaunten AJ zu sehen, der voller Lebenslust und Lebensfreude steckt. Mir war warm ums Herz.

AJ freut sich über Kekse, die ihm geschenkt wurden – © Taro Kataoka

Eine Passantin hat ihn heute mit Keksen versorgt. „Die schraub‘ ich mir heute Abend beim Fernsehen rein,“ erklärt er mit bierernster Mine. Ich stutze, weil ich mich frage, wo und wie er denn fernsehen will. „Ich halte mir Bilder vor meine Lampe und wechsel die hin und her. Das ist mein Fernsehen,“ sagt er und fängt lauthals an zu lachen.

Inzwischen setzt Regen ein. Aber das tut seiner Laune keinen Abbruch. Selbst die geringe Einnahme stört ihn nicht. „Ich bin der Kupferkönig von Wuppertal,“ sagt er schmunzelnd über die paar Cent, die er heute erhalten hat.

Seine Kaubeschwerden haben sich Dank einer unkomplizierten Hilfe eines Arztes (er hat Antibiotikum erhalten) erledigt und die Schwellung ist verschwunden.

Ich freue mich mit ihm und bin sehr froh, dass AJ seine Situation mit so viel Geduld und Humor meistert.“

Taro Kataoka

 

AJ freut sich über ein leckeres Eis – © Taro Kataoka

Warum werden Obdachlosen wie AJ so viele Steine in den Weg gelegt?

„Es sind über 25°Celsius in Wuppertal-Elberfeld. AJ sitzt an seinem Stammplatz, sieht mich kommen und winkt begeistert mit einem Briefumschlag. Die kostenfreie Schufa-Auskunft ist eingegangen. Endlich! Einiges Eintragungen haben sich dort angesammelt. Was die Auskunft konkret besagt, müssen wir erfragen.

AJ hat sich inzwischen entschieden, die erst beste Unterkunft anzunehmen, die ihm von der Diakonie angeboten wird. Ganz egal wo. Denn er will endlich ein Dach über den Kopf und weg von der Straße. Sein großes Ziel: Einen festen Job.

Sogar von seinem Vorhaben, seinen jetzigen Schlafplatz quasi als „Zweitresidenz“ zu behalten, hat er inzwischen Abstand genommen.

„Ich will endlich ein neues Buch aufschlagen“, sagt er im Brustton der Überzeugung. Wirklich bewundernswert, schlagen doch andere Obdachlose lediglich eine Seite um oder ein neues Kapitel auf. Und es bleibt letztlich bei den guten Vorsätzen.

Auf meine Frage, ob er einen Kaffee möge, antwortet er erstmalig mit: „Nein, aber ein Eis würde ich nehmen.“ Und so hat es heute ein ordentliches Hörnchen mit leckerem Eis gegeben.

Morgen hat AJ einen Beratungstermin bei der Diakonie. Vielleicht bekommt er ja endlich eine Zusage für ein eigenes Zimmer. Ich wünsche es ihm so sehr!“

AJ geht durch Höhen und Tiefen

Ein absolutes Highlight: AJ ist gegen COVID-19 geimpft. Voller Stolz zeigt er mir seine Impfkarte: „Ich habe etwas, was du nicht hast!“, sagt er und strahlt dabei bis über beide Ohren.

Wir sind gemeinsam zur Diakonie gegangen, weil dort Post vom Jobcenter für ihn angekommen ist. Erwartet hat er eigentlich die Bewilligung von Jobcenter-Leistungen. Doch zu seinem großen Entsetzen hat er den kompletten Antrag, den er längst mit Hilfe eines Anwalts eingereicht hatte, erneut erhalten.

Die Beraterin der Diakonie war ganz schön erstaunt, als ich ihr die E-Mail zeigte, die der Anwalt versandt hatte. Sofort griff sie zum Telefon und hakte energisch nach. Nein, die Unterlagen seien nicht elektronisch eingegangen, heißt es. AJ wurde langsam unruhig, konnte sich aber zurückhalten. Gut, dass ich dabei war.

Dann endlich, wohl nach intensiverer Suche, fand die Jobcenter-Fachkraft die vermisste E-Mail. Aber es wäre nicht alles Notwendige dabei. Eine Anlage, die Auskunft über die Einkommensverhältnisse Auskunft gäbe, würde noch fehlen. Also haben wir eilig die Anlage ausgefüllt, indem wir überall ein „./.“ für „null Einnahmen“ eintragen haben.

Und immer wieder bekräftigte die Beraterin der Diakonie gegenüber der Jobcenter-Fachkraft, dass AJ obdachlos sei, ohne Arbeit. Es hatte wirklich den Anschein, als würde Jobcenter alles daran setzen, um AJ die Leistungsgewährung so schwer wie möglich zu machen.

Eine Mitgliedsbescheinigung von einer Krankenkasse fehle auch noch, hiess es. AJ solle doch zu einer Kasse gehen und sich dort um eine Bürgerversicherung kümmern. Also machten wir uns auf den Weg zu einer großen Krankenkasse. Deren Türen waren aber geschlossen, nur eine Telefonnummer mit einem Hinweis auf eine notwendige Terminvereinbarung konnten wir hier finden.

Unser Anruf ergab dann Erstaunliches: AJ würde überhaupt keine Bürgerversicherung benötigen, da er mit der Bewilligung von Jobcenter-Leistungen über das Jobcenter automatisch krankenversichert würde. Die Beiträge einer Bürgerversicherung müsste er dagegen aus eigener Tasche zahlen.

AJ war außer sich vor Wut und machte seinem Ärger Luft: „So ist das immer. Ich habe drei Anträge eingereicht, immer ist irgendetwas. Nie wird mir geholfen.“

Ich kann ihn so gut verstehen, fühle ich mich selbst inzwischen gegängelt. Man könnte auf die Idee kommen, dass die Stadt keinerlei Interesse daran hat, Obdachlosen zu helfen und ihnen eine Perspektive zu bieten.

Dabei hat AJ Aussicht auf Arbeit und würde so gerne seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Doch das Jobcenter verkennt die Chance, wenigstens einem wie AJ zu helfen. Immerhin würde er, wenn er einen Job hätte, dann auch Sozialabgaben zahlen. 

Ich hoffe sehr, dass dieses Drama bald ein Ende hat. So oder so, wir werden dran bleiben, bis AJ endlich zu seinem Recht kommt.“

Taro Kataoka

AJ freut sich über selbstlose professionelle Anwalts-Hilfe

Professionelle Unterstützung erfährt AJ (r.) ehrenamtlich von Rechtsanwalt Georg Pothmann. Eine unbezahlbare Hilfe – © Taro Kataoka

Taro Kataoka berichtet: „Letzte Woche hatte ich mal wieder ein virtuelles Treffen vom Unternehmernetzwerk fair-dienen.net. Mit dabei unser Rechtsanwalt Georg Pothmann. Er hat AJ’s Geschichte mitverfolgt und hat ihm seine Hilfe beim Ausfüllen der Formulare für die Jobcenter-Leistungen angeboten.

Als ich AJ davon erzähle, ist er begeistert und erfreut. Heute nun haben wir nun den Termin beim Anwalt in dessen Kanzlei wahrgenommen. Georg Pothmann hat AJ wirklich sehr dabei geholfen, die Formulare korrekt auszufüllen. Der Schriftverkehr zwischen Jobcenter und AJ läuft nun auch über die Anwaltskanzlei.

Ich bin sehr glücklich, dass AJ soviel Zuwendung und Hilfe erfährt. Danke an das Netzwerk, aus dem heraus auch das Arbeitsangebot für AJ stammt. Irgendwie muss der Teufelskreis von Obdachlosigkeit und Armut doch durchbrochen werden können.

Heute früh hat AJ zudem von einer Passantin einen neuen Koffer erhalten, den sie mit Handtüchern und Bettwäsche bepackt hatte. AJ hat sich sehr gefreut und sich vielmals bedankt.

Das schuddelige Wetter kann AJ für heute nichts mehr anhaben, sein Tag ist gerettet. Er ist so voller Lebensmut und Lebensfreude, weil er spürt, dass es endlich aufwärts geht.

Hoffen wir nun, dass das Jobcenter sich mit der Bewilligung der Leistungen beeilt, damit AJ auch endlich krankenversichert ist. Denn AJ hat Halsschmerzen und eine Schwellung am Unterkiefer, die ihn daran hindert, normal zu kauen.“

Taro Kataoka

 

Jobcenter: AJ erstickt fast im Wust der Antragsformulare

AJ freut sich über die Schokolade, die ihm eine Facebook-Freundin von Taro Kataoka geschenkt hat – © Taro Kataoka

„Ein weiterer Schritt für AJ zurück in ein geordnetes Leben: Er hat Post vom Jobcenter erhalten. Das bedeutet, dass er regelmäßig bei seiner Meldestelle erscheint und seine Post abholt. Hierzu muss er einmal quer durch Elberfeld marschieren.

Die Post hatte es allerdings in sich. Um Jobcenter-Leistungen zu erhalten, hat er 25 Seiten Formulare erhalten, die er ausfüllen muß. Abgefragt werden alle Vermögensstände. Eine Farce für AJ, da er rein gar nichts besitzt, was von Wert ist.

Und so fällt es ihm schwer, die Formulare auszufüllen. Und selbst ich tue mir schwer, ihm dabei zu helfen, die „Antragsbegründung“ zu formulieren. Wir brauchen Hilfe. Zum Glück hatte sich via Facebook ein Stadtverordneter gemeldet, der seine Hilfe angeboten hatte.

AJ brütet über dem 25-seitigen Jobcenter-Antrag – komplizierter geht es kaum – © Taro Kataoka

Wir werden und wir müssen sie in Anspruch nehmen. Die Formulare sind innerhalb einer bestimmten Frist einzusenden – klar. Doch dann heißt es: „Die notwendigen Unterlagen oder Fotokopien können durch Zustellung per Post oder Einwurf in den Hausbriefkasten bei der im Briefkopf genannten Stelle zugestellt werden. Bitte beachten Sie hierbei, keine Originale zu übersenden oder einzuwerfen. Oder übersenden Sie uns die Unterlagen per E-Mail an die o.g. E-Mail-Adresse.“

Das stellt sich die Frage: Wie weltfremd geht es nur in so mancher Behörde zu!?  Die ganzen Auflagen sind eine echte Herausforderung für einen, der weder über ein Handy, einen Kopierer, noch über einen Scanner, geschweige denn über einen PC verfügt. Aber gemeinsam werden wir es schaffen.

Doch es gibt auch Erfreuliches zu berichten: Eine Facebook-Freundin hatte AJ Geschirr angeboten, das ich inzwischen abgeholt habe. Sie hat mir extra für AJ Schokolade mit einem persönlichen Gruß mitgegeben. Er hat hat sich riesig darüber gefreut und gibt das „MERCI“ gerne zurück.

Auch, dass die Stadtzeitung WUPPERTAL regelmäßig berichtet, freut ihn außerordentlich. Heute hat er sich über mein Handy den letzten Bericht durchgelesen. Immer wieder wird er von Mitmenschen namentlich angesprochen. Inzwischen fühlt er sich schon fast berühmt.

Eine Sozialpädagogikstudentin hatte ihn angesprochen, während er sich mit den Formularen beschäftigte. Sie hat ihn geben,  ihr bei einer Studie als Interviewpartner zur Verfügung zu stehen. AJ hat sich sofort bereit erklärt.

Ich bin sehr gespannt, was daraus wird. Und so entstehen immer neue Kontakte, die deutlich machen, dass AJ es hoffentlich bald schafft, von der Straße weg zu kommen. Immer mehr Wuppertaler drücken ihm inzwischen kräftig die Daumen.“

Taro Kataoka   –   Fortsetzung folgt

Der obdachlose AJ an seinem Stammplatz in Elberfeld – © Taro Kataoka

AJ: Viele Hürden auf dem Weg zurück ins normale Leben

„AJs Antrag auf ARGE-Leistungen ist eingegangen. Heute hatte er einen Telefontermin mit seinem Sachbearbeiter. Wegen der Pandemie konnte der Termin nicht persönlich stattfinden. Was für eine schwierige Situation für alle obdachlosen Mitbürger, die kein Handy haben.

Sie könnten zwar z.B. bei „Gleis 1″ oder bei der Diakonie ein Telefon benutzen, aber das ist recht mühsam. Der Sachbearbeiter wünschte postalisch eine Kopie vom Kontovertrag oder einen Scan per E-Mail. Zudem wird er weitere Anträge erhalten, an seine Meldeadresse. Diese kann er dann einwerfen.

Laut Internet wünscht die ARGE aber eher die Einsendung per E-Mail. Wie soll AJ ohne Hilfe das hinbekommen? So laufen wohl viele Anträge von obdachlosen Mitbürgern ins Leere. Etliche sind hoffnungslos überfordert mit den Regularien und der einzuhaltenden Reihenfolge: Postalische Meldeadresse besorgen – Bankkonto eröffnen – Aufklärung/Beratung zu einem Pfändungsschutzkonto (P-Kto) einholen – zurück zur Bank, um das P-Kto einzurichten.

Und dann Antrag bei der ARGE stellen und täglich bei der Meldeadresse melden. Schließlich müssen von den erhaltenen Spendengeldern jeden Monat Euro 9,90 zum Monatsende auf dem Konto sein, da ein Basiskonto nur auf Guthabenbasis geführt wird.

Fehlt das Geld für die Kontoführung, wird es umgehend gekündigt. Dann heißt es: Aus die Maus. Denn was soll ein obdachloser Mitbürger mit einem ARGE-Scheck, den er sich voll auszahlen lässt? Viel zu hoch ist das Risiko, alles sofort auf den Kopf zu hauen oder bestohlen zu werden.

Ich habe schon den Eindruck, dass es den Hilfebürftigen nicht besonders leicht gemacht wird. Mich bekümmert das schon sehr!!!“

 

Jetzt hat AJ endlich ein eigenes Bankkonto

Glück und zufrieden: AJ mit den Unterlagen für seine neues Bankkonto – © Taro Kataoka

Jetzt standen einige wichtige Termine für AJ an. Um Leistungen der ARGE beziehen zu können, um dann beispielsweise auch eine Wohnung anmieten zu können, benötigt er ein Basis-Bank-Konto. 

Also sind wir zur nächstbesten Bank gegangen. Dort wurden wir sehr freundlich empfangen. AJ hat es geschafft und ist jetzt stolzer Kontobesitzer. Anschließend benötigte er noch eine postalische Erreichbarkeitsadresse. Auch die hat er Dank der freundlichen Unterstützung durch die Diakonie Wuppertal erhalten. 

Fehlte eigentlich nur noch die Steuer ID-Nummer. Diese hatte er bei einer Sozialarbeiterin hinterlegt, die aber heute nicht erreichbar war. So sind wir zweieinhalb Stunden durch Wuppertal marschiert. 

Währenddessen erzählte mir AJ, dass er neulich nachts Besuch vom „unsichtbar e.V.“ (www.unsichtbar-ev.de) erhalten habe. Man habe ihn mit Lebensmitteln versorgt. Was für ein großartiger Verein. AJ hat mich gebeten, diesen Verein hier unbedingt zu erwähnen, weil er sehr dankbar ist, für jede Hilfe.

Ach ja, und ein Zimmer hat er auch in Aussicht. AJ hat sich auf eine Warteliste setzen lassen. Hoffen wir nun, dass er bald dort einziehen kann und dann ein festes Dach über dem Kopf hat. Die Aussicht, dann endlich arbeiten gehen zu können, stimmt ihn sehr positiv.

Ganz ehrlich: Vor der ersten Begegnung mit AJ habe ich mir gar nicht vorstellen können, wie steinig der Weg aus der Obdachlosigkeit zurück in eine geordnete Lebenssituation sein kann. Ich bin aber guter Dinge, dass es AJ schaffen wird.

 

Obdachloser AJ: Spieleabend bei Familie Kataoka

Immer tipptopp gepflegt: Der obdachlose AJ zu Besuch bei Taro Kataoka und seiner Familie – © Taro Kataoka

„Ein besonderer Sonntag – Ostersonntag. Ich bin mit AJ um 13 Uhr verabredet und treffe einen zutiefst deprimierten Mann an. In den fünf Stunden, in den er an seinem Platz sitzt, hat er exakt nichts an Almosen erhalten. Seine Dose ist leer.

Zur Weihnachtszeit sehe es anders aus, aber am höchsten Fest der Christen sei es enorm hart über die Runden zu kommen, so AJ. Ich habe eine Tüte mit von meiner Frau selbgebackenen Keksen in Osterhasenform für ihn dabei. 

AJ freut sich, packt die Kekse aber direkt in seinen Rücksack. Wir gehen ein Runde durch die Stadt. Irgendetwas beschäftigt ihn. Schließlich verrät er mir, dass ein ehemaliger Arbeitgeber mit Herzinfarkt ins Krankenhaus gekommen sei. 

Um 14 Uhr sei er mit dessen Sohn verabredet, um sich nach dessen Vater zu erkundigen. Eigentlich will ich AJ zu uns nach Hause zum Kaffee und Abendessen einladen, doch er lehnt dankend ab. Zu wichtig sei ihm das Treffen mit dem Sohn seines Ex-Arbeitgebers. Doch dann verabreden wir uns für die Zeit danach.

AJ freut sich über die selbstgebackenen Kekse, die Taro Kataoka ihm mitgebracht hat – © Taro Kataoka

Es ist inzwischen 15:30 Uhr, als ich AJ in der Stadt wieder treffe. Der ehemalige Arbeitgeber hat die letzte Nacht nicht überlebt. Tief berührt steigt er zu mir ins Auto und wir fahren zu mir nach Hause, wo er bereits von meiner Frau und Tochter erwartet wird. 

Wir essen gemeinsam und spielen anschließend das eine und andere Gesellschaftsspiel. Doch zwischendurch spricht er immer wieder von seiner Betroffenheit über den Tod des Bekannten, eines beinahe väterlichen Freundes.

Schließlich neigt sich der Abend dem Ende zu. Ich fahre AJ zurück in die Stadt. Unsere Wege trennen sich wieder. Doch wir sind für Dienstag (06.04.) schon wieder verabredet, um bei der ARGE einen Termin zu vereinbaren und in einer Bank ein Basis-Konto zu eröffnen.“

Taro Kataoka

Fortsetzung folgt!

 

AJ sitzt auf seinem Bett, um ihn herum seine Habseligkeiten – © Taro Kataoka

 

Über AJ alias Thomas

AJ alias Thomas, inzwischen 48 Jahre alt, hat eine sehr bewegte Geschichte hinter sich. Er wurde in Spanien geboren, kam er im Alter von einem Jahr nach Deutschland. Er verlor früh beide Elternteile und wuchs in Kinder- und Jugendheimen auf. Nach der Schule machte er eine Bäckerlehre.

AJ kam nie im normalen Leben an. Er geriet früh auf die schiefe Bahn, wurde immer wieder straffällig. Von Drogendelikten, über Körperverletzung bis hin zum Totschlag, was er heute zutiefst bereut.

Über dreißig Jahre seines Lebens verbrachte der gelernte Bäcker bislang im Gefängnis. Als er vor einigen Wochen aus der JVA entlassen wurde, stand er vor dem Nichts: Keine Wohnung, keinen Job, keine Perspektive.

Doch dank Menschen wie Taro Kataoka hat er neuen Mut geschöpft und ist jetzt fest entschlossen, seine Chance beim Schopf zu fassen!

 

Taro Kataoka – © privat

 

Über Taro Kataoka

Taro Kataoka – Jahrgang 1966 – ist japanisch-deutscher Abstammung, seit über 25 Jahren verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Nach der mittleren Reife an einer japanischen Schule, hat er zunächst die Fachoberschulreife, dann das Abitur an deutschen Schulen gemacht. Anschließend erlernte er den Beruf des Bankkaufmanns.

Taro Kataoka leistete Zivildienst und arbeitete einige Jahre bei einem japanischen Unternehmen. Anschließend studierte er Theologie. Nach zehn Jahren im Pastorenberuf begann er ein Fotodesign-Studium und schloß dieses mit dem Diplom ab.

Die Kamera ist seither sein ständiger Begleiter, zunächst meist nebenberuflich im Bereich der Eventfotografie. Inzwischen arbeitet er selbständiger Fotodesigner und betreibt ein eigenes Fotostudio. http://www.kataoka-fotografie.de/

Als interkulturell aufgewachsener Mensch ist Taro Kataoka an anderen Kulturen interessiert. Er lernt gerne neue Menschen kennen und tritt mit ihnen in Interaktion.

Als gläubiger Christ liebt er Gott, seine Nächsten und das Leben. Ein Beispiel dafür sind Hilfstransporte mit einem 40-Tonnen- Lkw nach Südost-Europa, die er ehrenamtlich unternimmt. Mindestens einmal im Jahr ist er unterwegs, um Menschen mit Lebensmitteln und Kleidung sowie weiteren Hilfsgütern zu versorgen.

Nicht zuletzt ist Taro Kataoka Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „Kinder-Tafel-Vohwinkel e.V., der die Kindertafel und den betreuten Spielplatz „Sternpunkt“ in Vohwinkel betreibt und betreut  http://www.kinder-tafel-vohwinkel.de

 

LESEN SIE AUCH – wenn SIE mögen:

Folge 1

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/01/mein-bewegendes-treffen-mit-einem-obdachlosen/

Folge 2

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/10/obdachloser-aj-sein-leben-unter-der-bruecke-die-fortsetzung/

Folge 3

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/19/obdachloser-aj-wohnung-und-job-in-aussicht/

Folge 4

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/03/25/34371/

 

Hilfsinitiative „WEISSE HERZEN Wuppertal“

https://weisseherzen.wixsite.com/wuppertal

 

Über UNSICHTBAR e.V.

http://www.unsichtbar-ev.de

Das Motto des gemeinnützigen Vereins lautet: „Schau nicht weg, sondern gehe mit Empathie und Respekt auf Menschen zu“

Der Verein weist darauf hin, dass es in Deutschland rund 678.000 Menschen ohne Wohnung gibt

Was genau macht UNSICHTBAR e.V.? – so beschreibt sich der Verein auf seiner Webseite

Den Menschen im Blick haben ist unsere Mission. Wir fühlen uns verantwortlich für jeden, der Sorgen und Nöte hat, auch wenn diese im Auge eines anderen noch so klein sind. Hinschauen, ernstnehmen und helfen – das ist unser gelebtes Motto. Nicht urteilen – machen!

Durch unsere Unterstützer und Mitglieder im Verein, können die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Hilfesuchenden Menschen abdeckt werden. Wir hören zu und versuchen gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. GEMEINSAM! Manchmal reicht schon zuzuhören oder einfach nur ein liebes Wort. Helfen kann so einfach sein.

In unserer Gesellschaft haben es viele verlernt, auf andere zuzugehen und ihnen ein Lächeln zu schenken. Diese kleine Geste kann Berge versetzen. Wir sollten es einfach öfter tun… Des Weiteren sensibilisieren wir unser Lebensumfeld, mit offenen Augen und Ohren durch diese Welt zu gehen. Wahrzunehmen und dankbar zu sein, wie gut es uns geht und wie schön und wichtig es ist, etwas davon abzugeben.

Zur unserem Aufgabengebiet gehören auch Vorträge halten, Workshops anbieten und unseren Wirkungskreis immer weiter erweitern. Wir sind 24 Stunden verfügbar, spontan und flexibel.

Obwohl wir uns ehrenamtlich engagieren und keine speziellen Öffnungszeiten haben, sind wir jederzeit erreichbar. Dort wo Hilfe gebraucht wird, versuchen wir zu helfen, ohne Wenn und Aber! Der Vorstand und alle Mitglieder glauben an Nächstenliebe! Wir leben Respekt und Empathie. Vertrauen und Loyalität sind für uns selbstverständlich.

Wir glauben an eine Welt, in der jeder Mensch andere Menschen unterstützen sollte.

Also: Herz ein und Augen auf!“

 

 

 

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