21. Februar 2022Peter Pionke
Mit Tattoos in ein neues Leben aufbrechen
In diesem Falle, das Studio „Haut(ge)schichten an der Hochstrasse am Elberfelder Ölberg. Der 35jährige Tätowierer Tim wartete auf ihn. Tim versteht sich als Künstler, hat sein Handwerk vor vier Jahren von Profis erlernt und inzwischen viel Erfahrung sammeln können. Sein eigener Körper, sein Hals und sein Gesicht ist auffällig tätowiert.
Was bedeutet ihm das? „Ich genieße die Blicke, die Aufmerksamkeit, will mich abgrenzen“ sagt er. Klar, seine Mutter habe ich zuerst auch erschrocken, aber jetzt hat sie selber ein Tattoo. Was in 15 oder 20 Jahren ist, ist für ihn heute nicht wichtig, sagt er. Schließlich könne man Tattoos ja auch wieder entfernen.
Leonardo ist beeindruckt von Tim. Mit ihm hat er das obligate Vorgespräch geführt und das notwendige Vertrauen gewonnen. Das ist für uns sehr wichtig, sagt die eine Studioleiterin Sofia (42), die vermeiden möchte, dass ihre Kunden gesundheitliche Vorbedingungen nicht erfüllen oder ihren gefassten Entschluss alsbald bereuen müßten.
Alles habe seine Ordnung, für diesen Fall gibt es vorgedruckte Einverständniserklärungen. Nein, die Gefahr des Absprungs war bei Leonardo offenbar nicht gegeben, weder drohte bei ihm eine Schwangerschaft noch ist er akut oder chronisch krank.
Er hatte klare Vorstellungen von dem, was er wollte. Sein linker Arm soll demnächst das Abbild eines Phönix tragen. Warum einen mythischer Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt? “Es hat mit meiner Krankheit zu tun“, sagte er leise. Ich stutze, „verrat es mir“, sagte ich. Dann antwortete er ganz ruhig: „Ich hatte Leukämie. Bis zum letzten Frühjahr war ich in klinischer Behandlung im Wuppertaler Helios Krankenhaus“.
Eine Krankheit also, die das Leben des gerade frisch vermählten auf einen Schlag verändert und in Frage stellte und ganz nebenbei zwangsläufig zu Gewichtsveränderungen führte. Und jetzt begreife auch ich, letzte Vorurteile sind beseitigt.
Lateinisch Phoenix bedeutet ja soviel wie „Der Wiedergeborene/Der neugeborene Sohn“. Phönix aus der Asche eben, den Spruch kennt jeder, als Symbol für etwas, das aus der Asche wieder aufersteht. Für Leonardo ist das Tattoo der Aufbruch in ein neues Leben.
Schmerzen sind unvermeidlich
Deshalb scheut er auch nicht die Tortur, die ihn jetzt erwartet. Zehn Sitzungen in sechs Stunden sind bei der gewählten „Neo-Tradition-Methode“ (Gegensatz Oldschool, alte traditionelle Schule) sind anberaumt. Traditional & new Styles sind die bekannten Differenzierungen.
Während mit Traditional und Oldschool klassische Seefahrermotive bezeichnet werden, bedient sich der Newschool-Stil der gleichen schwarzen Konturen und kräftige Füllfarben, verbessert diese Methode jedoch noch und führt knalligere Farben, neue Farbverläufe und Schattierungen ein.
Tim hat alles akribisch vorbereitet, sein Handwerkszeug ist sterilisiert, die Schablone (Stanze) vorbereitet und kann auf die mit Vaseline eingefettete Haut aufgetragen werden. Salvatore liegt bei der Prozedur, wird angeleuchtet mit gedämpftem Licht, so wie beim Fotografen, damit der Tätowiere einen gute Sicht hat.
Das Bild wird mit einem Farbstift auf die Haut gebracht, bevor die einer kleinen Nähmaschine gleichende elektrische Tätowiermachine vom Typ „Rotary“ los rattert und die Haut mit einem spitzen Gegenstand öffnet. Dauerhaft haltbar sind diejenigen Farbpigmente, die in der mittleren Hautschicht (Dermis) eingelagert sind.
Hier werden die Farbpigmente in den Papillarkörpern der Haut dauerhaft eingekapselt. Gewebeverletzungen mit Blutungen sind dabei unvermeidlich. Diese Hautverletzungen tut weh.
Dabei ist das Schmerzempfinden ganz unterschiedlich, sagt Geschäftsmitinhaberin Kati (33): Männer halten das in der Regel zwei Stunden an einem Stück aus, Frauen oft vier Stunden und mehr. „Es ist nicht so schlimm, wie beim Zahnarzt, sind sich alle sicher. Ein guter Tättoowierer versteht sein Handwerk so, das es nicht zu Narbenbildungen kommt.
Mit Haut(ge)schichten wollten die Initiatoren raus aus der Subkultur. Ihr Ziel eine offene , saubere Atmosphäre an einem Ort, an dem man sich wohl fühlt. Die Kunden von „Haut(ge)schichten“ kommen aus allen Schichten und Altersklassen.
Sofia erzählt gerne die Geschichte einer 18jährigen, die sich ihr erstes Tattoo auf den Oberarm stechen ließ. Als die 86jährige Großmutter, eine pensionierte Schulleiterin, dies zum ersten mal seh, war sie entsetzt, wie die meisten Angehörigen dieser Generation.
Doch als diese erkannte, dass die Enkeltochter ihren Vornamen, den der Großmutter hat tätowieren lassen, kamen ihr die Tränen und sie änderte ihre Einstellung zum Thema radikal. Die Großmutter wurde danach die bis heute älteste Kundin, denn sie ließ sich jetzt den Namen ihrer Enkeltochter in ihre Haut einbringen.
Das Studio an der Hochstrasse ist geräumig, 280 qm in freundlich eingerichteten Räumen stehen den Kunden zur Verfügung. Fünf Tätowierer arbeiten in der Regel an einem acht-Stunden Tag. Sie sind im Grunde freischaffende Künstler, die selbständig arbeiten. So wie Marcel (32), der heute die 52jährige aber deutlich jünger aussehende Anja G. als Kundin hat.
In diesem speziellen Falle kommt es besonders auf die Farben an, die immer eine hohe Qualität haben müssen. Dies wegen der Verträglichkeit, der Farbbeständigkeit, aber auch damit Metalle in den Farbstoffen bei einer Kernspintomographie keine unerwünschte Reaktionen wie etwa Verbrennungen zeigen.
„Die Qualität unserer Farbstoffe entspricht wie in allen seriös arbeitenden Studios geprüften EU-Normen. Lassen Sie sich im Zweifel der Etiketten zeigen,“ gibt Sofia einen Rat. Anja G. ist gekommen, weil ihr das vor 20 Jahren aufgebrachte und inzwischen etwas verblasste Schulter-Tattoo nicht mehr gefällt.
Wer wie sie seine Tätowierung bedauert, z.B. wegen Mangel an Ästhetik oder wegen einer bittere Erinnerung an einer dargestellten Person, kann entweder zu einer teuren Laser-Entfernung gehen oder aber wie sie das Tattoo mit der „“Cover-Up“ Technik drüber tätowieren lassen.
Das neue Tattoo, was das alte Tattoo abdecken soll, muss naturgemäß viel grösser sein und auch kräftigere Farben enthalten, um es perfekt abdecken zu können. Anja G. hat eine rote Rose mit grünen Blättern zur Überdeckung gewählt, die Abdeckung gelingt perfekt. Hatte sie Ängste vor dem Eingriff? „Erst nicht, aber als es dann losging, war ich sehr aufgeregt“, verriet sie.
Die Branche boomt gewaltig
Das Thema „Tattoo-Entfernung“ bekommt eine immer größere Bedeutung, auch weil Krankenkassen diese in aller Regel nicht finanzieren. Das ist der Grund, warum die Inhaber von „Haut(ge)schichten“ demnächst auch dieses Thema anbieten. Ein Lasergerät soll angeschafft und von medizinischen Fachpersonal bedient werden, so der neue Business-Plan von Vanessa Kurzeja-Wevering und den beiden Mitgesellschafterinnen.
Arbeitsmangel wird in dieser zukunftsträchtigen Branche ohnedies nicht erwartet. Achtzig Prozent aller Kunden kommen nämlich mindestens noch ein zweites Mal, aus welchem Grund auch immer. Dazu gehören auch Piercings, ob im Mund, in der Nase, den Augenbrauen am Ohr, an Brust, Bauch oder im Intimbereich, und zwar in diversen Modifikationen bis hin zu Implantationen.
Und Accessoires aller Art ergänzen das reichhaltige Angebot. Möglich ist fast alles. Die Leute kommen, weil sie etwas verändern wollen, wohl nicht nur an ihrem Äußeren. Ich jedenfalls habe dazugelernt.
Text: Siegfried Jähne
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