1. März 2022Peter Pionke
Per App: Spielerisch unsere Vergangenheit wiederfinden
„Bilder wecken die Erinnerung, und zwar auch über das Motiv hinaus“, sagt Dr. Carmen Pérez González, Fotohistorikerin und Lehrbeauftragte im Fach Geschichte an der Bergischen Universität. Mit dem Forschungsinstitut FOUTURE aus Düsseldorf [part of milkmonkey gmbh] hat die engagierte, gebürtige Spanierin nun eine Tablet App entwickelt, die das Familienleben generationsübergreifend verbinden kann und darüber hinaus das Potential zu einem wichtigen Forschungsinstrument hat. Das Projekt wurde bereits mit dem GründerStipendium NRW 2021 und dem Existenzgründerpreis Rhein-Erft-Kreis 2021 ausgezeichnet. Ein Beitrag aus der Uni-Reihe „Transfergeschichten“.
Golden Memories – Das Projekt
Hinter dem Titel „Golden Memories“ verbirgt sich eine Tablet App, die es so noch nie gab, analoge und digitale Generationen verbindet und den barrierefreien Zugang für alle bietet. „Es handelt sich um Familienfotospiele, die jede Familie individuell mit eigenen Fotos erstellen kann“, erklärt die studierte Astrophysikerin, die zu Beginn ihrer Idee zunächst an eine Hilfe für Menschen dachte, die an Gedächtnisstörungen leiden. Aber schon bald stellte sie fest, dass das Einbinden der jüngeren Generation in dieses Projekt den Vorteil bietet, gemeinsam, also generationsübergreifend miteinander zu spielen. Persönliche Gründe gaben den Ausschlag, sich wieder mit Familienbildern zu beschäftigen.
Diagnose Demenz – Kettenreaktion der Erinnerungen
In einer Phase, in der die Fotohistorikerin nicht so recht wusste, wie sie ihr Können, ihre Erfahrung und ihr Wissen gesellschaftlich einsetzen konnte, erhielt sie innerhalb der Familie zum dritten Mal eine Demenzdiagnose. Heute sieht sie diese Mitteilung als eine Art Initialzündung an, durch die sie zunächst über Fotos im Umgang mit ihren Familienmitgliedern Erinnerungen wachrief.
„Ich fing zunächst unbewusst an, mit alten Familienmitgliedern und unseren alten Fotographien zu spielen. Dann habe ich gemerkt, welche Kraft diese Fotographien haben. Über nur eine Fotografie konnten die älteren Menschen oft zwei Stunden sprechen, d.h., die Bilder fungieren wie Katalysatoren. Die Menschen erinnern sich auf einmal wieder an Ereignisse, die weg waren, sie erleben diese Situation noch einmal. Das ist sozusagen eine Kettenreaktion der Erinnerungen. Es gibt verschiedene Arten von Demenz, aber allen gemeinsam ist der Verlust der Identität, und genau in diesem Punkt können alte Familienfotos eine wunderbare Rolle spielen. Sie können Senioren helfen, sich zu erinnern, wer sie waren und vergessene Kapitel ihres Lebens zu rekonstruieren. Das hat mich überzeugt.“
Pérez González war Anfang 20, als sie das erste Mal familiär mit dem Thema Demenz konfrontiert wurde und sagt: „Ich habe eine lange Erfahrung mit dieser Erkrankung. Ich habe gesehen, was diese Krankheit mit den Menschen und auch mit den Familien macht. Alle leiden viel. Die Krankheit ist nicht heilbar, aber mit der neuen App kann ich jetzt etwas Gutes tun, nämlich die Lebensqualität dieser Menschen -zumindest für kurze Zeit- verbessern.“
Die Designer der Agentur milkmonkey bringen den Durchbruch
Eigentlich war es die Pandemie, die das Projekt dann schließlich in eine andere Richtung lenkte, denn die analogen Fotospiele mit den Papierbildern ließen sich nach den Kontaktbeschränkungen nicht mehr weiterführen. „Ich musste also eine Lösung finden, um das Projekt am Laufen zu halten“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Und dann brachte mich ein Freund, der ebenfalls Fotohistoriker ist, darauf, eine App zu erstellen.“
Da Pérez González weder über finanzielle Ressourcen noch über digitales Know-how verfügte, um diese Idee in die Tat umzusetzen, kontaktierte sie die Design Agentur milkmonkey in Düsseldorf. „Das war das größte Glück, was man haben kann“, sagt sie strahlend, denn „der Leiter der Agentur, Alain Yimbou, Dozent für Interaction Design und Retail Design an der Hochschule Düsseldorf im Fachbereich Design, war von Anfang an von diesem Projekt überzeugt.“
Die ganze Familie macht mit…
„Was mir an diesem Konzept gefällt, ist, dass man vom ersten Moment an spielt“, erklärt Pérez González, die ganze Familie sei von Anfang an im Einsatz, denn die Fotos lägen normalerweise in unterschiedlichen Haushalten und müssten zunächst zusammengetragen werden. „Dann können die jüngeren Familienmitglieder die Bilder mit Handy oder Tablet scannen und in die Galerie hochladen“, erklärt sie die Vorgehensweise.
Man könne jedes Foto beschriften und das sei wichtig, denn das Sortieren sei schon der Beginn des Gedächtnistrainings bei den Älteren. Und die jüngeren Familienmitglieder brauchten auch die Hilfe der Älteren, da diese die Informationen gäben, die das Bild charakterisiere. Durch Fragen wie: ´Wer hat das Foto gemacht? `, oder: ´Wer ist dargestellt? `, üben dann die einen, während die anderen die Hintergründe der Entstehung eines Fotos erfahren. „Dinge, an die sich die Familienmitglieder nicht mehr genau erinnern konnten, haben sie mit Fantasie rekonstruiert. Dieser Dialog ist wunderbar, denn manchmal wissen wir nicht mehr genau, woher wir kommen oder was unsere Familien früher gemacht haben“, sagt sie.
„Auch ich habe in meiner Familie Fotos gefunden, und das war für mich manchmal eine großartige Entdeckung. Das fördert den generationsübergreifenden Dialog“, betont die Forscherin. „Unsere Eltern sind noch total analog, wir arbeiten analog und digital und unsere Kinder sind schon total digital.“
Sind die Fotos erst einmal hochgeladen, kann man sie dann noch klassifizieren, also in Kategorien wie Familie, Hobby, Reise etc. einteilen.
Memory, Quiz oder Postkartenspiel
Der Spielspaß beginnt in zunächst drei verschiedenen Spielverfahren. Mit der Memorymethode kann man vergleichende Bilder wählen oder in einer Steigerung des Schwierigkeitsgrades ein Bild mit einem Text verbinden. „Da kann dann im Text z.B. das Jahr des Fotos stehen.“ Oder man nutzt die App als Quiz. „Auf die Frage: ´Wann und wo wurdest Du geboren? ` findet man nach der Antwort dann in Google Bilder aus der Zeit, also z.B. Barcelona 1920, sowie die Bilder von heute und kann sie vergleichen.“
Eine weitere interessante Möglichkeit bieten alte Postkarten, die von beiden Seiten eingescannt werden und oft schriftliche Informationen zum Bild liefern. Auch eigene Postkarten lassen sich in diesem Spielverfahren erstellen und rückseitig mit aktuellen Informationen ergänzen. „Mit einem Doppelklick können dann die Älteren auf die Postkarten ihre Erinnerungen dieser Momente schreiben oder mündlich aufnehmen.“ Diese interaktiven, individuellen Familienspiele sollen im Laufe der Jahre auf mindestens 15 verschiedene Spiele aufgestockt werden. Ideen dazu hat Pérez González noch mehr als genug.
Fotografien als bedeutende und interdisziplinäre Objekte
Fotografien haben schon immer eine besondere Bedeutung im Leben der Wissenschaftlerin gehabt. Nicht ohne Grund schrieb sie ihre Doktorarbeit über iranische Portraitfotografie des 19. Jahrhunderts und Persische Malerei. Schon während ihres Studiums in Barcelona beschäftigte sie sich intensiv mit der Fotografie. Sie besuchte Ausstellungen und las sich durch die umfangreiche Literatur. Der soziale Aspekt stand dabei immer im Vordergrund. Nach dem Studienabschluss jobbte sie, sparte und begab sich rund zweieinhalb Jahre auf eine ausgedehnte Asienreise, während der sie einige Fotoreportagen machte. „Ich habe über das tibetische Exil in Indien gearbeitet, über Kinder in Kambodscha, die durch Minen amputierte Hände und Füße haben.“
Ein Beitrag über die Arbeit der Frauen in Asien entwickelte sie sogar zu einer Ausstellung mit Katalog weiter und sagt: „In dieser Phase meines Lebens war Fotografie eine Möglichkeit, Missstände in der Welt zu kritisieren.“ Nach ihrer Rückkehr beschäftigte sie sich dann in ihrer Doktorarbeit mit Fotografien des 19. Jahrhunderts. Ihr Blickwinkel änderte sich und sie untersuchte die sogenannte Objektivität -besonders, den Mangel an Objektivität- in der Fotographie des 19. Jahrhunderts.
„Wie viel Wahrheit gab es in den Fotografien? Wie viel konnte man manipulieren? Für mich war in dieser Zeit der Prozess wichtiger. Wie konnte man ein Foto mit Hilfe der verschiedenen früh fotografischen Verfahren im 19. Jahrhundert erstellen und, noch interessanter für mich, wie konnte man die Fotos im Studio und in der Dunkelkammer manipulieren? Damals war es nicht selbstverständlich ein manipuliertes glaubwürdiges Foto zu erstellen. Als Gründerin von ´Golden Memories` bekommen die Bilder für sie heute mehr und mehr eine sehr emotionale Bedeutung. „Eigene Bilder können die Menschen emotional bewegen und helfen, das Leben einfacher und schöner zu machen! Und wenn es auch nur für kurze Zeit ist.“
Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte
Ihr Projekt will vor allem Menschen mit Demenz helfen. Es gibt den berühmten Slogan ´Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte`. Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob man mit Fotos Demenzerkrankte besser erreichen kann? „Ja“, antwortet Pérez González prompt, „diese Kraft der Bilder ist es, die die Menschen beim Betrachten wieder zu diesem Moment zurückführt. Die Bilder wecken wieder die Erinnerung und zwar auch über das Bild oder das Motiv hinaus. Ich bin fest davon überzeugt, ohne die Bilder könnte man viele Passagen des Lebens der Menschen nicht mehr nachvollziehen.“ Die Erinnerungen liegen in den Fotos, weiß die Wissenschaftlerin und kennt auch neurologische Studien, die Bilder bei Patient*innen einsetzen.
App mit Forschungspotential ab Mai nutzbar
„Mein ursprünglicher Wunsch bei diesem Projekt war es, Menschen und ihren Familien zu helfen. Aber im Laufe meines Projektes habe ich dann gemerkt, dass diese App ein wahnsinniges Forschungspotential als Forschungsinstrument hat.“ Mit der Agentur milkmonkey als IT-Experten und Pérez González als Fotohistorikerin ist das Projekt bereits interdisziplinär aufgestellt, Neurowissenschaftler und auch in der Pflege arbeitende Menschen könnten es in Zukunft noch verstärken. „Ich baue nun ein Netzwerk von Institutionen, die ein Interesse an dieser App haben, aus, damit sie mit dieser App auch forschen können“, sagt sie, denn diese Forschung und die damit verbundenen kommenden Ergebnisse könnten in Zukunft auch genutzt werden, um weitere Versionen dieser App als größere Datenbank international anzulegen.
„Im Augenblick gibt es schon eine Landingpage https://www.golden-memories.de, verrät die Gründerin. „Auch bei Instagram und Facebook sind wir damit schon vertreten. Es werden ständig Updates gemacht. Wir hoffen, dass die App im Mai zum Downloaden fertig ist. Sie wird kostenfrei zu nutzen und für alle Familienmitglieder zugänglich sein. Die Webseite funktioniert in drei Sprachen, deutsch, englisch und spanisch, denn Barrierefreiheit beinhaltet auch Sprache. Gerade ältere Menschen trauen sich nicht in fremder Sprache zu kommunizieren.“
Golden Memories ist kein normales Projekt. Carmen Pérez González hat viel Herzblut und Engagement investiert, um die App umzusetzen. Auch in Sachen Crowdfunding ist sie aktiv und sagt abschließend: „Alle Einnahmen, die diese App generiert, werden in das Projekt reinvestiert, damit wir weitermachen können,“
Sicherlich hat sie mit dieser App einen Stein ins Rollen gebracht, dessen weitreichende Nutzbarkeit in unserer digitalen Zeit noch gar nicht abzuschätzen ist.
Uwe Blass
Über Dr. Carmen Pérez González
Dr. Carmen Pérez González ist Astrophysikerin, Fotohistorikerin und Lehrbeauftragte im Fach Geschichte der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität. Sie ist die Gründerin des Projektes „Golden Memories“.
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