11. April 2022Peter Pionke
„Es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen“
Die Inszenierung steht in der in der Tradition südamerikanischen Familientheaters und dürfte weit über Wuppertals Grenzen Aufmerksamkeit erregen. Es ist ein 2012 uraufgeführten Stück des gefeierten uruguayischen Autors und Regisseurs Gabriel Calderón aus Montevideo, das jetzt von Peter Wallgramm übersetzt und dramaturgisch begleitet wurde.
Im Kern geht es hier um die Vergangenheitsbewältigung einer Familie, die im Bürgerkrieg ihres Landes durch Militärdiktatur und Folter schwer gelitten hat. Ein Thema, welches angesichts Putins Kriege erschreckende Aktualität besitzen dürfte.
Enkelin Ana (Julia Meier) gerade 20 Jahre alt geworden, versucht mit Hilfe ihres Freundes Tadeo (Kevin Wilke) die nach Jahren noch vielen unbeantworteten Fragen ihrer Familie zu klären, die ihr seelische Schmerzen bereiten, stößt dabei aber auf eine Mauer des Schweigens.
„Steck dir deine Fragen sonst wohin“, so die Antwort ihres missmutigen Großvaters Antonio (Stefan Walz), der sich so an gar nichts erinnern mag. Mehr noch, er weigert sich sogar, seine bohrend fragende Enkeltochter zu kennen und will auch nicht „Opa“ genannt werden.
Eltern, Großeltern und Kinder bleiben die Antworten auch noch schuldig, als Tadeo mit Hilfe einer „Zeitmaschine“ ein Weihnachtsessen mit den meist schon verstorbenen Protagonisten arrangiert, ein Familientreffen aus dem Jenseits.
Dank der neuartigen Erfindung des jungen Wissenschafters Tadeus läuft das Thema in verschiedenen Zeitzonen ab, mit deren Hilfe reichlich Tote aus dem Jenseits an die festliche Tafel gekommen sind. Bei dem rasanten Wechsel vom Heute ins Damals und wieder zurück wird das Ausmass der Schuld in dieser Familie sichtbar.
Calderón läßt das Publikum nur ahnen, was da derart tabuisiert und im Hintergrund geblieben ist. Es geht es um die Zeit der Militärdiktatur in Uruguay, die von 1973 bis 1985 dauerte.
Eine Zeit, in der überaus beliebte spätere Präsident (2010-2015) Mujica noch als Terrorist galt. Guerilla-Kämpfer José Mujica, genannt El Pepe, wurde er in seiner Zeit als Guerrillero von der militärischen Diktatur für zwölf Jahre inhaftiert. Seine Geschichte wurde inzwischen verfilmt ( Netflix: Ein Leben an höchster Stelle).
Auch José (Alexander Peiler), Spielmacher des Schauspiels sowie dessen Bruder Jorge (Konstatin Rickert) und Vater von Ana waren Teil jener Widerstandskämpfer, die sich nach dem letzten, von spanischen Kolonisatoren 1572 hingerichtete Inka-Herrscher Tupac Amaru (übersetzt „Leuchtende Schlange“) „Tupamaros“ nannten.
José starb als Opfer schwerster Folter in einem tiefen Brunnen. Der Bruder schien ihn verraten zu haben. Tatsächlich aber hatte der Vater der beiden, jetzt der Opa (Stefan Walz) und früher ein Arzt, der sich aus dem politischen Kampf gern heraushalten wollte, die Namensliste von Jorges Freunden an die mörderische Obrigkeit weiter gereicht. So starb auch Jorge. Über all das wurde zwischen Opa und Mutter (Yulia Yanez Schmidt) Stillschweigen vereinbart.
„Schmerz ist dein Freund“
„Schmerz ist dein Freund“, heißt es in einem Dialog und später: „Ungerecht ist Teil der Gerechtigkeit“. Es gibt vielfältige, auch philosophische Erklärungsansätze für das Schweigen. Die einen sagen, man müsse die Vergangenheit endlich ruhen lassen und sich um die aktuellen Probleme kümmern.
Die anderen meinen um das Heute zu verstehen und an einer Zukunft zu bauen, sollte man seine Vergangenheit kennen. „Es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen“ gelangt das Stück zu einer interessanten Erkenntnis.
Vesta Hiltmanns schlichtes und funktionales Bühnenbild passt sich thematisch ebenso gut wie Ulf Steinhauers untermalende Musikauswahl ein in dieses schnelle, anspruchsvolle Theaterstück von einer Stunde und 30 Minuten.
Text: Siegfried Jähne
„Ex. Mögen die Mitspieler platzen“
von Gabriel Calderón
Theater am Engelsgarten
Weitere Vorstellungen:
Sonntag – 10. April 2022 – 18:00 Uhr
Sonntag – 17. April 2022 – 18:00 Uhr
Freitag – 29. April 2022 – 19:30 Uhr
Samstag – 28. Mai 2022 – 19:30 Uhr.
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