23. August 2022Peter Pionke
„In der Pandemie ging das Gefühl füreinander verloren“
Corona und kein Ende! Die internationale gesellschaftliche Krise des 21. Jahrhunderts macht auch vor unseren Kindern nicht Halt. Eine neue Studie, die der Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Christian Huber am Institut für Bildungsforschung an der Bergischen Universität durchführte, lässt die Alarmglocken in unserem Schulsystem regelrecht aufheulen.
Auslöser waren ratsuchende Schulleitungen, die sich in ihrer Not an den Schulrat ihres Schulamtsbezirks wandten, der sich dann mit dem Wuppertaler Wissenschaftler in Verbindung setzte. Dieser bereitete mit seinem Team dann im Frühjahr für den Schulamtsbezirk Köln eine Studie vor, deren Ergebnisse Anlass zur Sorge geben.
„Der entscheidende und zentrale Grund war, dass die Lehrkräfte irgendwann festgestellt haben, es geht nicht mehr“, beginnt Huber, „die Belastungen der Lehrerinnen und Lehrer waren am Limit. Die Lehrkräfte sahen sich in den letzten Monaten mit einer zunehmenden Zahl an Verhaltensproblemen konfrontiert.
Ausgehend von der Aufgabe, die Leistungsrückstände, also den verpassten Stoff aufzuholen, standen sie jedoch vor dem Problem, massive Verhaltensauffälligkeiten der Kinder zu berücksichtigen, die ein stressfreies Lernen unmöglich machten.
Die Teilnehmer
Neben den Lehrkräften und den Eltern der Kinder, standen vor allem die Grundschülerinnen und Grundschüler der dritten und vierten Klasse selber im Vordergrund. „Wir haben die Studie breit angelegt, d.h. wir haben natürlich die Kinder selber befragt, weil das ganz entscheidend ist. Wir wollten wissen, wie sich die Kinder fühlen“, erklärt der Bildungsforscher. Weil die Lesekompetenzen der Erst- und Zweitklässler noch nicht ausreichen, gibt die Studie für diesen Bereich lediglich durch Elternaussagen Auskunft.
Die Befragung startete kurz vor den Osterferien, zu einem Zeitpunkt, an dem viele Coronamaßnahmen bereits zurückgefahren wurden. „Wir haben eigentlich erwartet, dass die Kinder das Thema Corona ganz gut weggepackt haben“, sagt Huber, „das war aber definitiv nicht der Fall. Wir haben ungefähr ein Drittel der Kinder, die massive Zukunftsängste in Bezug auf die Coronapandemie haben.“
Die Fragen beinhalteten auch die Zukunftsperspektive, welche durch Corona, eingeschränkte Freizeitaktivitäten und ein verändertes Berufsleben den Grundschülern massive Zukunftssorgen bereite. Auch nahmen die Kinder sich selbst als ungewöhnlich aggressiv wahr.
„Wir haben drei Mal mehr Kinder gehabt, die große Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Aggressivität hatten. Gleichzeitig ergaben sich erhöhte Angstwerte und Depressivitätswerte.“ Auch konnte die Studie einen Zusammenhang zwischen der Belastung der Eltern und der Belastung der Kinder nachweisen. „Je belasteter die Eltern waren, desto stärker waren die Kinder auch belastet.“
Hohe Belastungsempfindung bei Eltern und Kindern
Huber und sein Team nutzten vergleichbare Verfahren, welche schon in der Copsy-Studie eingesetzt wurden (Die COPSY-Längsschnittstudie untersucht die Auswirkungen und Folgen der COVID-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Die Studie wird von Frau Prof. Dr. Ravens-Sieberer geleitet und von der Forschungsabteilung Child Public Health am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf durchgeführt. Anm. d. Red.)
„Damit ist unsere Studie an Befunde des Robert-Koch-Instituts anschlussfähig“, erklärt Huber, „d.h., wir konnten unsere Werte damit vergleichen und feststellen, dass es in den letzten zwei Jahren keine Reduktion der Belastung gegeben hat, sondern wir noch immer auf einem sehr hohen Level sind.“ Eine Beruhigung der Situation sei also nicht eingetreten, so dass die immer noch hohe Belastung der Eltern auch Einfluss auf die Kinder habe und man darin eine mögliche Ursache sehen könne.
Aggressionen, Angst und ein Krieg in Europa
Depressionen und auch Angstsituationen ließen sich zum Teil auch auf die sozialen Unsicherheiten in den Elternhäusern zurückführen, erläutert Huber. „Aber auch Themen, die medial sehr stark waren, wie der Ukrainekrieg, spielen hier eine Rolle, die in den Schulen und auch familiär oft nicht aufgegriffen werden.“
Die gesellschaftliche Situation sei momentan auf Entspannung ausgerichtet und da kämen Kinder nicht unbedingt mit. Dazu Huber: „Einige Kinder haben ja ein Viertel ihres bewussten Lebens wirklich in dieser Coronapandemie verbracht. Sie können diese Situation nicht einfach abschütteln. Das ist der Teil Angst. Wir brauchen hier mehr Aufbereitung der gesamten Situation“, fordert daher der Wissenschaftler.
Wenn Kinder dann auch nicht mit dieser Angst umzugehen verstünden, könne dies leicht in Aggression umschlagen. „Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass ein Kind, das innerlich Aggressivität spürt, immer auch das Kind ist, dass über Tisch und Bänke geht. Aggressivität kann sich wie bei uns Erwachsenen auch, unterschiedlich äußern.“
Bei einigen sei die Aggressivität nach innen gerichtet, bei anderen nach außen. Einige leben sie in der Schule aus, andere im Elternhaus oder beim Sport. Die Pandemie hat nicht nur die Möglichkeiten des Auslebens von Aggressionen jäh beendet, sondern viele Gelegenheiten zum Erlernen sozialer Kompetenzen.
Die Studienergebnisse zeigen, dass Kinder offensichtlich massive Defizite in der sozialkognitiven Informationsverarbeitung hätten. Huber nennt dazu ein Beispiel: „Wenn ein Kind bspw. im Pausenhof einen Ball vor den Kopf geschossen bekommt, gibt es verschiedene Möglichkeiten, das zu interpretieren. Manche Kinder neigen dazu zu sagen: ´Na ja, es ist ein Versehen gewesen und daher ist es wieder gut. ` Wir nehmen aber an, dass der Anteil der Kinder, die das quasi zu ihrem eigenen Nachteil interpretieren, stark zunimmt. Also nach dem Motto: Du hast das extra gemacht. Und diese Regulation erfolgt eigentlich im gegenseitigen Miteinander. Wenn wir viel auf dem Pausenhof miteinander spielen, dann lerne ich, dass das mal passieren kann.“
Diese Lernvorgänge seien aber durch Homeschooling kaum möglich gewesen. Und auch die nonverbale Kommunikation sei durch das ständige Maske tragen erschwert gewesen, denn das Gesicht war zur Hälfte verdeckt. So konnten viele nonverbalen Interaktionen nicht gelernt werden, sagt Huber und die Kinder hingen zurück.
Auch die Wechselbeziehungen zu Gleichaltrigen litten, denn „es entstehen Konflikte, die nicht aufgearbeitet werden. Kinder haben keine Modelle, an denen sie sich orientieren können, haben keine Vorerfahrungen gemacht. Und das ist die zweite große Aufgabe neben dem Aufbereiten der Ängste: die Ermöglichung der sozialen Kontakte. Wir müssen mit den Kindern diese sozialen Kompetenzen wieder erlernen.“
Vom Verlust des Gefühls füreinander…
„Die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung gerade bei der Aggressivität gehen meist auseinander“, sagt Huber. Jedoch stellten die Wissenschaftler in dieser Studie ein Kuriosum fest. „Kinder schätzen sich selber in der Regel immer weniger aggressiv ein als das Außenstehende tun. D.h. der Lehrer nimmt eine Unterrichtsstörung immer stärker wahr als das Kind selber. Das war jetzt genau umgekehrt. Die Kinder haben sich viel stärker aggressiv wahrgenommen als die Lehrkräfte das eingeschätzt haben. Bei den Eltern war das zum Teil auch so.“
Dadurch, dass Lehrkräfte die Kinder nicht in der Form beobachten konnten, wie das sonst der Fall gewesen sei, die Coronamaske das Problem obendrein noch verschärfte, könne auch ein Grund darin liegen, formuliert der Wissenschaftler, „dass uns in der Pandemie so ein bisschen das Gefühl füreinander verloren gegangen ist.“ Die Sicht auf die Kinder sei zwischen Schule und Elternhaus sehr unterschiedlich. Deswegen legte die Studie auch großen Wert darauf, die Kinder selber zu befragen.
Welche Rolle spielt der Krieg?
In der Studie ging es auch um Zukunftssorgen in Bezug auf Corona und den Ukrainekrieg. „Wir haben die Studie Anfang Februar fertig geplant, und dann kam der Krieg dazu. Daher haben wir dann noch einen Satz an Fragen aufgenommen, weil wir nicht wussten, wenn wir auffällige Ergebnisse bekommen, worauf die sich beziehen“, erklärt Huber.
Zu Beginn des Krieges sei dieser sehr stark medial aufbereitet worden und es zeigte sich, dass die Zusammenhänge zwischen Kindern, die vor dem Ukrainekrieg Angst hätten und denen, die sich vor Corona fürchten, relativ groß sei.
„Die Kinder sind in Sorge wegen beider Phänomene. Das Entscheidende ist, wir müssen diese Dinge mit den Kindern aufbereiten und zwar so schnell wie möglich. Wir können nicht darauf vertrauen, dass sich das alles in Luft auflöst. Wir müssen mit den Kindern sprechen. Kinder haben nicht die gleiche Selbstregulationsmöglichkeit wie wir als Erwachsene. Wenn wir Corona als große Krise betrachten – und für manche Kinder ist es auch eine traumatische Erfahrung -, dann ist das, was jetzt eintreten wird, nach einer kurzen Phase der Beruhigung wieder eine Art Retraumatisierung, auf die wir zusteuern“, warnt der Bildungsforscher.
Er schlussfolgert: „Zurzeit entsteht ein starker gesellschaftlicher Druck, verpassten Stoff möglichst schnell wieder aufzuholen. Es wird überall darüber geredet, wie groß die Lücken sind, es wird eine Verlierergeneration vorausgesagt. Meine These ist: Wenn wir jetzt zu schnell auf die Inhalte gehen und vergessen, dass die Kinder auch ein emotional-soziales Befinden haben, dann werden die Lücken nicht kleiner, sondern größer. Die Unterrichtsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten werden dafür sorgen, dass die Kinder sich nicht auf den Unterrichtsstoff konzentrieren.“ Das wiederum bekämen dann die Lehrkräfte zu spüren, von denen sich rund zwei Drittel in einem bereits sehr belasteten Bereich befänden.
Hilfe zur Selbsthilfe
Um ca. 10 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer müsse man sich sogar langfristig Sorgen machen, weil viele davon bei unveränderter Belastung dem System nicht erhalten blieben. „Es hängt sicher vom weiteren Geschehen der Coronapandemie ab“, schätzt Huber, „aber es ist damit zu rechnen, dass wir Lehrkräfte auf lange Sicht verlieren. Das kann sich das Schulsystem aber nicht leisten. Wir müssen uns also auch um die Lehrkräfte kümmern.“
Daher habe die Studie weniger die wissenschaftliche Aufarbeitung der Situation zum Ziel gehabt, sondern vielmehr die Hilfsangebote in den Fokus gerückt.
„Es fällt nicht unter den Aspekt Forschung, sondern eher unter den Aspekt Solidarität mit Lehrkräften, Familien und vor allem Schülerinnen und Schülern. Die Universität leistet einen Beitrag zur Hilfestellung“, sagt Huber.
Zu den realistisch implementierbaren Hilfen im Schulalltag stehen der untersuchte Kölner Schulamtsbezirk, die Schulpsychologie und der kinder- und jugendpsychiatrische Dienst der Stadt Köln sowie die Uni Köln bereits im Austausch. Einig ist man sich in der Frage der Prioritätenverschiebung.
„An erster Stelle steht die emotional-soziale Aufbereitung der Gesamtsituation. Dann können wir auch wieder Fahrt aufnehmen, was die Leistungsförderung betrifft“ betont Huber und das funktioniere über kleine Gesprächsanlässe sowohl in der Familie, als auch im Unterricht.
„Wir greifen die Sorgen der Kinder auf, thematisieren sie und zeigen Verständnis für sie.“ Dazu entwickele man Gesprächskreise oder auch kleine Unterrichtseinheiten. Der zweite wichtige Aspekt betreffe die emotional-soziale Entwicklung der Kinder, die unterstützt würde. „Dazu brauchen wir kleine, einfache Varianten von Sozialtrainings, wo Kinder, die Lernrückstände – und ich würde das nicht als Verhaltensstörung bezeichnen -, also Lernrückstände im emotional-sozialen Bereich, die sie am Lernen hindern, stückweise aufbereiten.“
Bei Konflikten müsse Unterstützung her, denn „die Kinder haben zwei Jahre Pandemieerfahrung in den Knochen, d.h. sie haben nicht gelernt, Konflikte zu lösen.“ Sonderpädagogen können in dieser Situation eine entscheidende Rolle spielen, der offene Ganztag könne eingebunden werden und am Ende seien es auch immer die Eltern, deren Unterstützung man brauche. „Grundlage für das Lernen, ist auch das soziale Lernen“, konstatiert Huber. „Wenn wir das verpassen und versauen, dann haben wir wirklich eine ganze Generation an Corona verloren. Wir können es jetzt verändern!“
Zwar haben Christian Huber und sein Team berufsbedingt diese Studie mit Grundschülern durchgeführt, die Frage sei trotzdem erlaubt, ob eine Studie mit erwachsenen Berufstätigen nicht zu ähnlichen Ergebnissen führen würde, denn Pandemie, Homeoffice und zu wenig Zwischenmenschliches haben auch uns schwer zugesetzt. Bekanntlich lernen wir alle durch Wiederholungen. Daher könnten wir uns Hubers Eingangszitat als Frage formuliert am Ende noch einmal selber stellen: „Ist uns in der Pandemie ein bisschen das Gefühl füreinander verloren gegangen?“
Uwe Blass
Über Prof. Dr. Christian Huber
Prof. Dr. Christian Huber leitet das Lehr- und Forschungsgebiet der Rehabilitationspädagogik (Schwerpunkt: Förderung der emotional-sozialen Entwicklung) am Institut für Bildungsforschung in der School of Education an der Bergischen Universität.
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