30. August 2022Peter Pionke
„Die Bedeutung der Zivilgesellschaft im Katastrophenfall“
Christiane Schneider hat im vergangenen Jahr alles verloren. Die Betreiberin des Ausflugslokals Landhaus Bilstein ist eines der prominenten Wuppertaler Beispiele der verheerenden Hochwasserkatastrophe im Bergischen Land.
Christiane Schneider hat in ihrer Not aber auch sehr viel Hilfe von Nachbarn, Freunden und auch Fremden erhalten, die sich einfach auf den Weg machten, um zu helfen, wo es nötig war. Die nachbarschaftliche Unterstützungsbereitschaft setzte in vielen Fällen bereits ein, bevor behördliche Stellen überhaupt vor Ort waren.
An der Bergischen Universität untersuchen Dr. Tim Lukas und Bo Tackenberg vom Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit in einem neuen Projekt diese spontane Nachbarschaftshilfe, die die Wissenschaftler Sozialkapital nennen und deren Einsatz im Krisenfall eine wichtige Ressource für den kommunalen Bevölkerungsschutz darstellen kann.
Gesellschaftliches Zusammenleben = Sozialraum
„Es gibt von Städten beispielsweise administrative geographische Gebietseinteilungen, die als Sozialräume bezeichnet werden“, sagt Bo Tackenberg, Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Entwicklung eines Sozialkapital-Radars für den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz“, kurz Sokapi-R genannt, doch diese Umschreibung treffe den Begriff nicht ganz, denn Sozialräume seien eher Bereiche, in denen gesellschaftliches Zusammenleben stattfinde.
„Man kann Menschen nicht einfach geographisch abstecken“, erklärt der Wissenschaftler, „denn Menschen können in mehreren unterschiedlichen geographischen Räumen Aktivitäten nachgehen und soziale Beziehungen pflegen, so dass die geographischen Grenzen verschwimmen“, und Tim Lukas, Leiter des Projektes, ergänzt: „Sozialräume können Stadtquartiere sein, es kann aber auch der Arbeitsplatz oder ein Verein sein. Sozialräume sind Räume, in denen Menschen soziale Beziehungen miteinander eingehen.“
Früher waren Städte lediglich statistisch gegliedert, d.h. es gab z.B. den Stadtbezirk Elberfeld, den man wiederum in einzelne Quartiere unterteilte, also kleinere räumliche Einheiten. Das änderte sich in den 1990er Jahren durch stadtsoziologische Forschungen, erläutert Lukas, wodurch man erkannt habe, dass die Grenzen dieser Bezirke oder Stadtteile nicht unbedingt immer deckungsgleich seien mit den Bereichen, in denen sich die Menschen verorten.
„Eine große Straße in meinem Stadtteil ist nicht gleich das Ende meines statistischen Bezirks, aber gefühlt ist das, was dahinterliegt, nicht mehr meine Nachbarschaft. Das liegt für mich schon auf der anderen Seite. Ich gehe da nicht einkaufen, weil mein Supermarkt auf meiner Seite der Straße liegt. Und deshalb hat man gesagt, wir brauchen eine stadtgeographische Einteilung, die sich stärker an der Wahrnehmung der Menschen und ihrer Lebensrealität orientiert. Und damit kam der Gedanke vom Sozialraum auch in die städtische Statistik hinein.“
Ein Sozialkapital-Radar für Wuppertal
Seit Sommer 2021 bearbeiten die beiden Forscher das durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) geförderte Projekt „Sokapi-R“. Als ein Werkzeug für den professionellen Bevölkerungs- und Katastrophenschutz möchten die Wissenschaftler eine Art Dashboard entwickeln, mit dem sich die nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft im Wuppertaler Stadtgebiet ablesen und im Falle eines Falles sinnvoll koordinieren lässt.
„Wir möchten anschließend Handlungsempfehlungen für den Bevölkerungsschutz formulieren, die dann auch stärkere Berücksichtigung in der Risikoanalyse des Bevölkerungsschutzes finden sollen“, sagt Tackenberg, denn der bisherige Leitfaden, der den Kommunen zur Verfügung stehe, berücksichtige die nachbarschaftliche Unterstützungsbereitschaft nur sehr eingeschränkt.
„Wir haben in den vergangenen Katastrophen häufig gesehen, dass bei der Bewältigung gerade die nachbarschaftliche Hilfe ganz zentral ist.“ Das Starkregenereignis des letzten Jahres und die Geschehnisse im Ahrtal hätten die Grenzen des Bevölkerungsschutzes deutlich gemacht und die Bedeutung der Zivilgesellschaft hervorgehoben.
„Einerseits sind es die Betroffenen selbst, die sich untereinander helfen“, zählt Tackenberg auf, „aber es sind auch andere Menschen, die sich betroffen fühlen, Mitgefühl haben und sagen, wir müssen uns dort engagieren. Diese Menschen nehmen sogar weite Strecken auf sich, um den Leuten vor Ort zu helfen.“
Ziel des Projektes ist es daher, ein Instrument zu entwickeln, das die Bewältigungsressourcen im gesamten Stadtgebiet aufzeigen kann. Im Ernstfall könne so der professionelle Katastrophenschutz schnell erkennen, wo Menschen die Möglichkeit haben, sich erst einmal selbst zu helfen, damit die vorhandenen Reserven dann anderweitig eingeplant werden können.
„Der Bevölkerungsschutz soll so in Zukunft noch bevor ein Ereignis entsteht, Kenntnisse über das Leben in den einzelnen Quartieren erhalten, um die Ressourcen besser auszuloten.“
Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz ist Pflicht einer jeden Stadt
Nachbarn sind in der Regel noch vor der Feuerwehr und dem THW vor Ort, weiß Lukas, sie seien üblicherweise die ersten Helfer. Die Risikoanalysen für den Bevölkerungsschutz, eine Pflichtaufgabe jeder Stadt, berücksichtige diese Tatsache jedoch kaum. „Wenn sie sich dieses Vorgehen anschauen, da geht es nur darum, wie viele Fahrzeuge von welchem Typ habe ich, wie viele Gulaschkanonen halte ich vor, wie viele Feldbetten kann ich aufbauen. Da ist der Katastrophenschutz gut drin“, betont Lukas und fährt fort, „aber er ist weniger gut darin, sich mit lokalen Akteuren zu vernetzen.“
Dabei wisse ein Nachbar sehr viel mehr über die Lage vor Ort, über die Anzahl der Erwachsenen und Kinder eines Hauses, über kranke Mitbewohner oder auch Tiere in den Wohnungen. Nachbarschaftliche Unterstützungsbereitschaft könnte in solchen Fällen in der Krankenbetreuung oder der Versorgung mit Lebensmitteln liegen: „Es geht um ungenutztes Wissen und um ungenutzte Kapazitäten auf Seiten der Bevölkerung.“
Erkenntnisse des Vorprojektes fließen in die neue Studie mit ein
Bereits im Vorläufer zu diesem neuen Projekt hatten sich die Wissenschaftler in einer Befragung mit dem sozialen Zusammenhalt und der Unterstützungsbereitschaft der Menschen in den Sozialräumen Wuppertals beschäftigt und festgestellt, dass diese Bereitschaft im Stadtgebiet sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.
„In unserem neuen Projekt möchten wir diese Erkenntnisse und Analysen vertiefen. Dazu schauen wir uns die Einflüsse in den sozialen Räumen genauer an“, erläutert Tackenberg das Vorgehen. Mit dieser Herangehensweise – die Forscher nennen es „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ – wollen sie die beteiligten Akteure besser vernetzen, um eine stärkere Nutzbarmachung für den Bevölkerungsschutz zu erzielen, ergänzt Lukas.
„In den Empfehlungen des Vorprojektes haben wir circa 50 Maßnahmen formuliert, wie sich der soziale Zusammenhalt stärken lässt, insbesondere durch die kooperative Arbeit unterschiedlicher Organisationen. Da sind dann auch Maßnahmen zu zivilgesellschaftlichen Kooperationen, Kommunikationsstrategien, der Abbau von Ungleichheiten oder die Förderung von Toleranz enthalten, die das Leben der Menschen in den Quartieren verbessern können“, sagt Tackenberg.
Man müsse das Klima an bestimmten Orten bereits im Vorfeld eines Katastrophenereignisses verbessern und versuchen, dass die Menschen mehr in Kontakt miteinander kämen. Lukas nennt ein Beispiel in Oberbarmen. Dort gibt es ein Quartiersbüro.
„Die machen phantastische Arbeit da, bringen die Leute zusammen und aktivieren die Bevölkerung. Das hat nicht nur einen Mehrwert für das alltägliche Leben der Menschen dort, sondern es hat auch einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz.“
Studie unterstützt staatliches Krisenmanagement
Die Anwendung der Projektergebnisse ist den Wissenschaftlern das größte Anliegen. Als Bundesprojekt angelegt, werde die Erhebung zwar ausschließlich in Wuppertal umgesetzt, solle aber langfristig auch bundesweit das staatliche Krisenmanagement unterstützen. „Wichtig ist es“, betont Lukas, „Zusammenhänge zwischen dem Bevölkerungsverhalten in der Krise und Katastrophe und den sozialstrukturellen Bedingungen in den Stadtteilen zu verstehen. Dieses Wissen wird mit anderen Kommunen geteilt. Jede größere Stadt hat ein Amt für Statistik, das alle für die Etablierung eines solchen Dashboards erforderlichen Sozialstrukturdaten erhebt und laufend aktualisiert.“
Auch die Erfahrungen vergangener Jahre fließen in diese Studie mit ein, denn Probleme in einzelnen Stadtteilen verändern sich nicht von heute auf morgen, sondern überdauern oft Jahrzehnte.
Bevölkerungsbefragung: Suche nach dem bestmöglichen gemeinsamen Nenner
Anfang September ist es nun soweit. Neben einer Onlinebefragung erhalten auch knapp 7.000 zufällig ausgewählte Haushalte per Post den neu erstellten Fragebogen.
„Wir machen also auch eine schriftlich-postalische Bevölkerungsbefragung und hoffen auf eine rege Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Damit auch die ausländische Bevölkerung Wuppertals teilnehmen kann, wird die Befragung mehrsprachig, in vier weitere Sprachen, übersetzt“, erklärt Tackenberg.
Aus Erfahrungen wisse man, dass die Beteiligung ausländischer Bürgerinnen und Bürger an solchen Umfragen häufig sehr gering sei. Das mache spezifische Aussagen schwierig und doch wisse man aus der Forschung, „dass es starke soziale Bindungen innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe und Netzwerke gibt, die sich gegenseitig unterstützen“, sagt Lukas.
„Wenn die Quartiersstrukturen aber sehr heterogen sind, ist die Herausforderung um einiges größer, und da muss auch der Bevölkerungsschutz drauf achten.“ Selbst wenn die Ergebnisse eine geringere Unterstützungsbereitschaft in einzelnen Sozialräumen belegen würden, erklärt Tackenberg, heiße das nicht, dass im Unglücksfall nicht doch eine hohe Bereitschaft vorhanden sei.
„Man hat eigentlich immer ein sehr stark ausgeprägtes prosoziales Verhalten in Katastrophen. Katastrophen aktivieren auch gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Anhaltende Krisen könnten dagegen auf lange Sicht Konfliktlagen verschärfen.
Schwierig sind Empfehlungen für Gemeinschaften oft deshalb, weil deren Individuen auch immer höchst unterschiedlich sind.
„Wenn wir uns den Fragebogen anschauen, dann ist damit zu rechnen, dass natürlich jeder individuell antwortet“, sagt Tackenberg. „Wir möchten dann sehen, ob vielleicht doch bestimmte Muster vorhanden sind. Dazu verwenden wir besondere statistische Prüfverfahren, die dieser Problematik Rechnung tragen. Es ist die Suche nach dem bestmöglichen gemeinsamen Nenner. Und wenn man diesen gemeinsamen Nenner findet, kann man auf Basis dieses Nenners eine Handlungsempfehlung formulieren.“
Einbindung der zivilen Unterstützungsbereitschaft in das Krisenmanagement
Ausgangspunkt des Gesamtprojektes ist der tatsächliche Zusammenhalt in sozialen Gemeinschaften, der in Krisensituationen besonders sichtbar wird. Daher müsse, so die Fachmeinung der Wissenschaftler, der Bevölkerungsschutz die Zivilbevölkerung stärker als bisher in ihre Prozesse einbinden, um Ermüdungserscheinungen in der Hilfsbereitschaft vorzubeugen.
Die Krisen der vergangenen Jahre haben auch die Helfenden oft an ihre Grenzen gebracht. 2015 die Flüchtlingslage mit einer bürgerlich einsetzenden Willkommenskultur, die Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz im vergangenen Jahr, Corona und der Krieg in der Ukraine mit all seinen Auswirkungen.
Damit die Hilfsbereitschaft der Menschen auch weiterhin bestehen bleibe, brauche es eine Wertschätzung und Einbindung in das staatliche Krisenmanagement, das sich der Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Unterstützungsbereitschaft zunehmend bewusst werde. „Man redet nicht ohne Grund von einer Neuausrichtung des Katastrophenschutzes und des Zivilschutzes in Deutschland“, sagt Lukas.
„Auch mit der Kriegslage und den Folgen der Gas- und Energiekrise ergeben sich da neue Herausforderungen. Das hängt ja alles zusammen und dadurch bekommt unsere Forschung natürlich auch einen anderen Stellenwert. Wir haben unser Projekt kurz nach den Geschehnissen im Ahrtal begonnen und es hat seitdem große Resonanz erfahren.“
Verbesserung der Lebensverhältnisse in Sozialräumen durch Partner
„Wenn die Lebensverhältnisse in den Sozialräumen verbessert werden, dann ist von einer größeren zivilgesellschaftlichen Unterstützungsbereitschaft auszugehen“, sagt Tackenberg. Indem der Katastrophenschutz daran mitwirkt, könne auch er davon zukünftig profitieren. Es benötige jedoch Zeit, um ein neues Rollenverständnis zu entwickeln. „Die Erkenntnis von Unterschieden in der Hilfsbereitschaft der Zivilbevölkerung sowohl im Alltag, als auch in Krisen und Katastrophen ist da ein wichtiger Ansatz.“
Im Projekt Sokapi-R arbeiten die Wissenschaftler eng mit dem Deutschen Roten Kreuz zusammen. „Es ist für uns immens wichtig, dass wir einen Praxispartner dabeihaben“, betont Lukas, „wir kooperieren mit dem Generalsekretariat des DRK in Berlin. Das DRK ist ja in Verbänden organisiert und es ist wichtig, dass wir das, was wir entwickeln, mit ihren Kompetenzen abgleichen. Sie bringen dazu die Erfahrungen aus anderen Projekten zum sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz mit und können Handlungsbedarfe der Praxis besser abschätzen.
Zudem geht es darum, dass wir auch in den Kommunen Menschen erreichen, die mit unserem Tool vor dem Hintergrund ihrer professionellen Ausrichtung arbeiten können.“ Dazu nehmen die Wissenschaftler an zahlreichen Veranstaltungen teil und werben in den Verwaltungen für ihr Projekt.
Schließlich stehen die Kommunen vor enormen Herausforderungen. Die Digitalisierung der Verwaltung, die Verkehrswende oder die Anpassung an den Klimawandel sind Mammutaufgaben, denen sich die Städte stellen müssen. Aber auch die Forschung des Lehrstuhls für Bevölkerungsschutz wird in Zeiten, in denen die Anzahl der Krisen, Katastrophen und extremen Wetterereignisse stetig zunimmt, immer wichtiger. Die Kommunen werden sich damit zukünftig mehr und mehr auseinandersetzen müssen.
Und dann hat die Unterstützungsbereitschaft der Menschen auch noch einen weiteren, sehr wichtigen sozialen Aspekt, den die eingangs geschilderte Gastronomin in einem Interview wie folgt beschreibt: „Es kamen viele als Fremde, die als Freunde gegangen sind.“
Uwe Blass
Über Dr. Tim Lukas und Bo Tackenberg
Dr. Tim Lukas leitet die Forschungsgruppe Räumliche Kontexte von Risiko und Sicherheit am Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit in der Fakultät Maschinenbau und Sicherheitstechnik der Bergischen Universität. Bo Tackenberg, M.A., ist wissenschaftlicher Projektmitarbeiter in der Forschungsgruppe.
Weiter mit:
Kommentare
Neuen Kommentar verfassen