26. September 2022

„Die Wahrheiten“: Ein Stück am Puls der Zeit

Dass Wahrheiten mitunter unvollständig sein können, zeigt das Schauspiel Wuppertal. Mit dem Drama „Die Wahrheiten“ greift es Handlungen mit gesellschaftlicher Brisanz auf. Jetzt hatte das Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz am Engelsgarten Premiere.

Maditha Dolle und Silvia Munzón López in „Die Wahrheiten“ – © Uwe Schinkel

Das meist gespielte zeitgenössische Autoren-Duo liegt mit diesem Stück einmal mehr am Puls der Zeit. Es geht um Vertrauen und Machtgefälle, individuelle Gefühle und deren Verletzlichkeiten in Paarbeziehungen, aber auch in Freundschaften zwischen den Geschlechtern. Dargestellt werden Machtmissbrauch, Grenzüberschreitungen, viel zu langes Schweigen und Vertrauensverlust.

Jana, ehemalige Musiklehrerin, jetzt Psychotherapeutin und der gut aussehende Filmjournalist Erik (gespielt von Maditha Dolle bzw. John Sander) beenden ihre 17-jährige Freundschaft zu  Landtagsmitarbeiterin Sonja und Finanzagentur-Chef Bruno (gespielt von Silvia Munzon Lopez bzw. Stefan Walz) per SMS und mit sofortiger Wirkung. Es möge bitte keine Nachfragen geben, man wolle die Entscheidung nicht weiter diskutieren.

Anvertrautes Geheimnis

Nach den ersten Momenten der Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit und Wut, beginnen Sonja und Bruno nach den möglichen Gründen zu suchen: Während Sonja Sorge hat, sie könnte Jana mit dem kürzlichen Anvertrauen eines Geheimnisses überfordert haben, ist sich Bruno sicher, man solle abgelegt werden, weil man nach Jahren der, auch finanziellen, Unterstützung, nun schlichtweg nicht mehr gebraucht werde. Oder war da vielleicht sogar mehr zwischen Bruno und Erik?, sinnt Sonja.

Stefan Walz und Silvia Munzón López – © Uwe Schinkel

Erik hört unterdessen gerade von Jana, wie Bruno sie einst auf einem ihr von ihm vermittelten Coachingseminar für Führungskräfte nicht nur vor Mobbing und sexuellen Belästigungen der männlichen Seminarteilnehmer beschützt, sondern sie vielmehr noch aufgefordert hat, das Ganze doch einfach mal etwas lockerer zu sehen.

Hat Jana bei dem von Bruno vermittelten Coaching krachend versagt oder wurde sie Opfer sexueller Belästigung? Ist finanzielle Hilfe das Erkaufen von Abhängigkeit? Ist Verschweigen gleich Lügen? Wie schwer wiegt ein anvertrautes Familiengeheimnis und steht Loyalität über allem? 

Sprache von Machos und Feministen

Antworten lassen sich aus den Dialogen herauslesen, etwa wenn Bruno sagt: „Sexual-Neid ist mir fremd!“  Oder Eriks Frage: „Warum sprichst du mit dem, der demütigt, nicht mit mir?“  Thematisiert wird die Sprache von Machos und Feministinnen. Hier liegt ein besonderer Schwerpunkt.

Plötzliche Erkenntnisse nach vier Jahren über empfundene Demütigungen und Missbrauch brechen auf und sorgen für Verwirrungen, auch weil klare und eindeutigen Aussagen nicht getroffen werden und es an entsprechenden Absprachen fehlt.                                                                                                                                                                                                                                                       

Der Zuschauer erfährt nach und nach, jeweils aus Sicht des Erzählenden, von immer mehr Ereignissen und Zusammenhängen, die die Freundschaft der beiden Paare jahrelang und oftmals ohne Wissen der Beteiligten bestimmt und nun zum endgültigen Bruch geführt haben. 

Wahrheiten aus dem Baukasten

„Jeder kann die Wahrheit nur aus dem bauen, was er in dem Zeitpunkt weiß. Es ist immer eine unvollständige Wahrheit und deshalb auch nie eine objektive Wahrheit. Hier ist es auch die  intime Kommunikation“, bewertet Lutz Hübner sein Werk und fügt hinzu: „Diese Dialoge würden niemals so stattfinden, wenn andere im Raum wären. Vertrauen ist ein Kapital, welches am Ende aufgebraucht ist“.

Nachdem die Paar-Dialoge im Mittelpunkt des Gesehenes stehen platzieren Dramaturg Peter Wallgram und Regisseurin Johanna Landsberg das mit Spannung erwartete Finale in den Schlussakt der Darbietung.

Die Frage, welche Wahrheit am Ende die gültige ist, bliebt so kompliziert wie ungelöst. Für Intendant Thomas Braus gibt es keinen Absolutheitsanspruch zur Frage von Recht. Das Stück wolle  keine Antworten geben, es soll vielmehr zum Nachdenken anregen.

Dies ist gelungen, wie aus der Reaktion des Premierenpublikums erkennbar wurde. Prädikat „Sehr sehenswert!“

Text: SIEGFRIED JÄHNE

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