5. Dezember 2022

Obdachloser AJ lebt wieder unter der Brücke

Das Schicksal von AJ hat viele Wuppertaler tief berührt. Alles fing damit an, dass der ehemalige Pastor und heutige Fotodesigner Taro Kataoka den Obdachlosen um Erlaubnis bat, ihn fotografieren zu dürfen. Er durfte. Aus der außergewöhnlichen Foto-Session entwickelte sich eine enge Beziehung, fast schon eine Freundschaft. 

AJ (l.) mit Taro Kataoka, seinem zuverlässigen Unterstützer – © Taro Kataoka

Fast jedes Wochenende traf sich Taro Kataoka mit AJ, der buchstäblich unter einer Brücke lebte und regelmässig in Elberfeld als Bettler unterwegs war. Taro Kataoka, Vorstandsmitglied im Verein „Kinder-Tisch Vohwinkel e.V.“, der im Wuppertaler Westen die Kindertafel mit Schularbeiten-Betreung betreibt, interessierte sich  für die traurige, dramatische Lebensgeschichte des gestrauchelten Mannes. Der ehemalige Seelsorger erwies sich als geduldiger Zuhörer.

Nach mehreren Treffen und vielen gemeinsam getrunkenen Tassen Kaffee beschloss der Fotograf, AJ tatkräftig dabei zu helfen, den Weg zurück ins normale Leben und in die Gesellschaft zu finden. Taro Kataoka nahm AJ buchstäblich an die Hand, begleitete ihn bei Behördengängen, vermittelte ihm auch eine kostenlose Beratung bei einem Rechtsanwalt.

Taro und seine Frau luden AJ sogar wie einen Freund zu sich nach Hause ein. Als der Obdachlose dann dank seines Unterstützers auch noch eine Praktikumsstelle mit Aussicht auf Festeinstellung in einen Gevelsberg Steinbruch und zusätzlich sogar die Zusage für eine eigenen Wohnung erhielt, schien das Glück von AJ perfekt. Ein Happy-end!?!

AJ blieb auf der Strecke

Leider ein Trugschluss. Der durch das jahrelange Leben auf der Platte gesundheitlich stark angeschlagene Mann kam mit der neuen Situation nicht klar, konnte sich an einen geregelten Arbeitsalltag nicht mehr gewöhnen. Außerdem sollen ihm von den Behörden in Gevelsberg, die jetzt für ihn zuständig waren, jede Menge Steine in den Weg gelegt worden sein.

Das trauige Ende vom Lied: Der Resozialisierungsversuch ist krachend gescheitert. AJ lebt wieder auf der Strasse und hält sich Betteln und dem Einlösen von Pfandflaschen mehr schlecht als recht über Wasser.

Taro Kataoka, den wir über Monate bei dem Versuch begleitet haben, AJ weg von der Straße zu holen, zieht in einem offenen, emotionalen Interview eine ganz ehrliche, persönliche Bilanz seiner ganz besonderen Beziehung zum Obdachlosen AJ.

AJ tagsüber in Elberfeld – © Taro Kataoka

DS: Über Monate haben Sie den Obdachlosen AJ betreut, Zeit, Geld und Emotionen investiert. Am Ende ist AJ in sein altes Leben zurück gekehrt und lebt wieder unter der Brücke. Sind Sie nur tief enttäuscht oder empfinden Sie das auch als persönliche Niederlage?

Taro Kataoka: „Weder noch. Es ist schlicht schade, dass AJ es nicht geschafft hat, wobei verschiedene Umstände mit dazu beigetragen haben, dass er es nicht geschafft hat. So war es zwar ein echtes Geschenk, dass er in Gevelsberg eine Unterkunft von seinem neuen Arbeitgeber erhalten hatte. Doch mit dem Wohnortswechsel war Wuppertal bezüglich der Bezüge (Hartz IV) nicht mehr zuständig und stellte die Zahlungen ein, die wir mühsam erkämpft hatten. Auch wegen der Situation um Corona, war es uns nicht gelungen, alle Unterlagen für einen Neuantrag in Gevelsberg einzureichen. Der Sachbearbeiter in Gevelsberg zeigte sich dabei wenig hilfsbereit und verständnisvoll. So war AJ erneut mittellos, denn sein neuer Arbeitgeber hatte ihn nur zum Praktikum aufgenommen – unentgeltlich; allerdings mit der Aussicht auf Anstellung, falls er sich bewähre. Diese Situation war für AJ völlig neu. Er hatte gehofft, schon bald selbst verdientes Geld zu haben. Ich hatte ihm zwar erklärt, wozu ein solches Praktikum nötig sei und was das finanziell bedeute, doch ihm fehlte offenbar der lange Atem. Sein Praktikum verlief ohnehin nicht besonders gut. Denn AJ tat sich schwer, pünktlich zu sein. Zudem hatte er sich gegen jeden Rat auch von Arbeitgeberseite übernommen. Sein gesundheitlicher Zustand ließ es einfach nicht zu, dass er direkt acht Stunden arbeitete. Und so meldete er sich schon bald krank. Abends war er dann in Wuppertal unterwegs und sammelte Pfandflaschen. Ich hatte ihn dort ziemlich durcheinander gefunden, als ich ihn eines Abends suchte. Die ganzen Umstände schienen ihm nicht wirklich zu gefallen, sodass es beinahe absehbar geworden ist, dass er den Weg zurück in ein geordnetes Leben nicht schaffen wird.“

AJ war zwischenzeitlich total optimistisch, dass er wieder ein normales Leben würde führen können – © Taro Kataoka

DS: Sie waren einmal Frei evangelischer Pastor, bevor Sie Fotodesigner wurden. Ist Ihnen Nächstenliebe und Verantwortung für Schwächere quasi mit in die Wiege gelegt worden – zumal Sie sich ja auch sehr stark für die Vohwinkeler kinder-tafel engagieren, die Kinder aus unterpriviligierten Familien verpflegt und bei den Schularbeiten betreut?

Taro Kataoka: „Das ist sicherlich der Fall, da meine Eltern stets ein offenes Auge und Ohr für Hilfsbedürftige hatten und ihnen auch mit gebenden Händen begegnet waren. Von uns Kindern wurde dieses Verhalten ebenfalls verlangt, was nicht immer leicht war, aber mich doch stark geprägt hat. Menschen in schwierigen Situationen zu helfen ist auch für den Gebenden ein enormer Gewinn. Denn geteiltes Leid, ist halbes Leid und geteilte Freude, ist doppelte Freude. So heißt es und ich kann bestätigen, dass es so ist. Allerdings ist es ein steiniger Weg gewesen, bis ich dahin gekommen bin, mit der gegebenen Unterstützung keine Erwartungen zu verbinden. Und wo Sie mich auf meine Pastorenzeit ansprechen: Ich bin ja nach wie vor überzeugter Christ, der Jesus vertraut und seinen Aussagen Glauben schenkt. So sagt Jesus, dass alles, was wir einem der Geringsten getan haben, ihm getan haben und alles, was wir ihnen nicht getan haben auch ihm nicht getan haben. Es mag daher etwas schräg anmuten, aber ich habe mir immer wieder in AJ Jesus vorgestellt, wobei es schon mitunter ernüchternd gewesen ist. Aber AJ ist ein äußerst ehrlicher, freundlicher und herzlicher Mitmensch. Obdachlose Mitbürger kategorisch als „Sozialschmarotzer“ abzustempeln, ist daher nicht fair. Denn wer sich mit ihnen länger befasst, wird schnell merken, dass wirklich jeder durch unglückliche Umstände auf der Straße landen kann.“

DS: Warum ist bei Ihnen die Hemmschwelle viel niedriger, mit Menschen am Rande der Gesellschaft persönlich in Kontakt zu treten, als bei Otto-Normalverbraucher, der mit einer kleinen Geldspende in den Hut des Bettlers sein Gewissen beruhigt?

Taro Kataoka: „Zum einen habe ich während meiner Zeit als Pastor in Solingen, immer wieder Besuch von Hilfesuchenden erhalten. Einige davon wollten nur Bares, aber viele hatten echte Not. Nun kann ich nicht jedem Geld in die Hand geben, aber eine warme Mahlzeit, vorübergehend ein Dach über dem Kopf, ein heißes Bad, alles das haben wir als Familie gerne zur Verfügung gestellt. Zum anderen bin ich als Fotodesigner immer wieder auf der Suche nach einer Geschichte, die ich mit meinen Bildern erzählen kann. So war ich damals in die Elberfelder Fußgängerzone gegangen, mit der Absicht, den erstbesten Obdachlosen anzusprechen, um ihn zu portraitieren. Es war ein bitterkalter Winter und mich hatte es interessiert, wie ein Obdachloser in dieser Situation „über die Runden“ kommt. Schon in der Vergangenheit hatte ich mit Obdachlosen zu tun. So etwa als Jugendlicher, als ich in Remscheid im Bahnhof auf einen Zug wartete oder in Hamburg bei den Jesus Freaks, die regelmäßig „auf die Platte“ gingen, um Obdachlosen Butterbrote zu bringen. Daher war die Hemmschwelle nicht allzu groß. Doch war ich mir nicht sicher, wie ein Obdachloser reagieren würde, wenn ich ihn frage, ob ich von ihm ein Foto machen dürfe. AJ war da ganz entspannt und war sogar positiv überrascht, dass seine Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Als wir dann gemeinsam zunächst einen frischen Kaffee getrunken hatten, war das Eis gebrochen. Manchmal muss du eben nur mal fragen. Denn das kostet in aller Regel nichts und mehr als ein Nein ist auch nicht zu erwarten.“

AJ an seinem früheren Schlafplatz, der aber Linzsuchen verbrannt wurde – © Taro Kataoka

DS: Sie haben AJ sogar wie einen Freund zu sich nach Hause eingeladen. Ihre Frau hat ihn bekocht, um ihm zumindest für Stunden das Gefühl von Wärme und Geborgenheit zu vermitteln. Die meisten hätten das sicher nicht getan, zumal AJ vorbestraft ist. Hatten Sie oder Ihre Frau da keinerlei Bedenken?

Taro Kataoka: „Selbstverständlich haben wir uns das gründlich überlegt. Doch ich hatte zu diesem Zeitpunkt AJ bereits mehrere Wochenenden getroffen und mit ihm stundenlang gesprochen. So war eine gewisse Beziehung gewachsen, in der ich AJ als ehrlichen und offenen Menschen zu schätzen gelernt hatte. Abzuwägen galt es, ob uns AJ ungebeten aufsuchen würde. Unser Eindruck war, dass er das wohl nicht tun würde, aber selbst wenn, wären wir dafür offen gewesen. AJ hat uns nie von sich aus aufgesucht, obwohl er Adresse und Telefonnummer hatte. Wir wussten, dass vor diesem Vorgehen stets ausdrücklich gewarnt wird. Aber wir hatten entschieden, dass wir AJ wie einen Freund einladen wollen und ihm einige Stunden im Warmen und Trockenen bieten wollen. Und so hatten wir eine äußerst angenehme Zeit miteinander, bei einem warmen Abendessen und anschließendem Gesellschaftsspiel.“

DS: Sie haben AJ bei sämtliche Behörden-Angelegenheit unter die Arme gegriffen, ihm über gute Kontakte sogar einen Job und eine Wohnung besorgt. Hat Ihnen da jemals irgendjemand einen Vorwurf gemacht, nach dem Motto: „Wie konntest Du mir überhaupt so einen Typen ans Herz legen“?

Taro Kataoka: „Nein, einen solchen Vorwurf habe ich nie gehört. Allerdings gab es Stimmen, die berichteten, dass andere sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Zurückführung in ein geordnetes Leben sei äußerst schwierig und bedürfe einer professionellen Begleitung durch Therapeuten. Dennoch, ich will diese Erfahrung nicht missen. Über das Unternehmernetzwerk Fair-dienen.net, in dem ich selbst Mitglied bin, hatte ich einen Praktikumsplatz, eine Wohnung und Rechtshilfe für AJ angeboten bekommen. Alles das hatten wir dankbar angenommen. Für alle Beteiligten war dies eine außergewöhnliche Erfahrung, die geprägt war von viel Hoffnung und dem Wunsch, wenigstens einem eine neue Perspektive zu bieten.“

Immer gepflegt: Der obdachlose AJ zu Besuch bei Taro Kataoka und seiner Familie – © Taro Kataoka

DS; Wie lange hat es gedauert, bis Ihnen die ersten Zweifel gekommen sind, dass Ihr persönlicher Einsatz für AJ am Ende sinnlos sein würde?

Taro Kataoka: „Bevor ich echte Zweifel bekam, war ich skeptisch, ob AJ es wirklich schaffen wird. Am Tag, als es zum ersten Praktikumstag nach Sprockhövel in einen Steinbruch gehen sollte, war AJ wie vom Erdboden verschluckt. Ich wartete und wartete, bis er mit verzerrtem Gesicht auftauchte. Er hatte die Nacht schlecht geschlafen und sich eine Magenverstimmung zugezogen. Es war die Aufregung vor diesem neuen Lebensabschnitt. Als er sich dann nur nach wenigen Tagen krank meldete, dann sein Handy, das wir ihm zur Verfügung gestellt hatten und auch ein Fahrrad, dass ihm geschenkt worden war, verloren hatte, kamen Zweifel auf. Wie konnte jemand, so wesentlich wichtige Dinge einfach verlieren? Ich musste realisieren, dass AJ unaufmerksam und leichtfertig ist. Doch das ist nun mal wenig hilfreich für einen Weg in ein geordnetes Leben. Ich spürte, dass ich ihm die therapeutische Hilfe nicht geben kann. Meine Ausbildung zum Seelsorger reichte bei Weitem nicht aus. Auch in unserem Miteinander spürte ich eine Veränderung. AJ war nicht mehr so gesprächig und es bekümmerte ihn irgendetwas, wovon er aber nichts herausließ. Alles das war für mich belastend, denn gerne hätte ich ihm weiter geholfen.“

DS: Sehen Sie die Gründe für das Scheitern, AJ von der Straße zurück in die Gesellschaft und in ein normales Leben zu holen, nur bei AJ allein oder auch bei anderen? 

Taro Kataoka: „AJ hatte mir von seiner unerträglichen Kindheit berichtet, die ihn schließlich auf die schiefe Bahn gebracht hatte. Das hat mir erneut vor Augen geführt, dass eine wohlbehütete Kindheit in einem intakten Elternhaus, nicht mit Geld aufzuwiegen ist. AJ war dies nicht vergönnt. Stattdessen hat er die Straße als sein Zuhause gewählt und sich mit Wenig arrangiert. Zu viele Schicksalsschläge haben ihn zweifeln lassen, dass er ein Leben in der geordneten Bahnen führen kann. Ich glaube, dass wir das akzeptieren müssen. Obdachlose gehören (leider) zu unserer Gesellschaft, ob wir das gutheißen oder nicht. Im Falle von AJ waren daneben aber auch die vielen Steine im Weg unzuträglich. Wer Hartz IV beziehen möchte, muss sich zunächst durch einen Dschungel von Formularen kämpfen, die kaum verständlich sind. Zudem waren sowohl Krankenkasse, als auch die Behörden in Gevelsberg, Corona hin oder her, wenig kooperativ. Wie viele Anrufe und Briefe ich getätigt und verfasst hatte, weiß ich nicht mehr. Aber es war eine schier unglaubliche Ignoranz, die mir entgegen trat. Da will jemand aus den Sozialtöpfen raus und die Behörden tun alles, dass das nicht gelingen kann. Denn ohne Sozialleistungen auch keine Sozialwohnung und ohne Wohnung kein Job. Ich finde, dass es den Behörden gut zu Gesicht gestanden hätte, mit AJ ein Exempel zu statuieren, dass es doch möglich ist, einen Mitmenschen von der Straße zu holen. Schade, dass diese Sicht zumindest ins Gevelsberg nicht vorhanden war. In Wuppertal sah das Dank anwaltlicher Unterstützung noch ganz anders aus. Wer weiß, wie das Projekt ausgegangen wäre, hätte AJ in Wuppertal einen Job oder einen Praktikumsplatz gefunden.“

Da war er noch voll motiviert: AJ (l.) lernt eine Kollegin und einen Kollegen kennen und wird im Steinbruch seinem neuen Chef Thomas Lange (r.) eingewiesen – © Taro Kataoka

DS: Sind Sie sich aus der heutigen Sicht überhaupt sicher, dass AJ überhaupt zurück ins normale Leben wollte oder vielleicht doch nur bei seiner vermeintlichen Resozialisierung notgedrungen mitgespielt hat, um Sie nicht als Freund und Förderer zur verlieren?

Taro Kataoka: „AJ hatte stets betont, dass er mich „nicht enttäuschen“ wolle. Darauf hatte ich ihm immer wieder klarzumachen versucht, dass es nicht um mich, sondern um ihn selbst gehe. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass AJ sich selbst überschätzt und überfordert war. Vielleicht war auch mein Engagement zu viel; vielleicht habe auch ich mich und ihn überschätzt. Aber wie bereits gesagt: Es war spannend und AJ hatte sicherlich für einige Monate eine zuversichtliche Perspektive, die ihm auf jeden Falle ein Leuchten in die Augen zauberte.“

DS: Welche Fehler begehen die Gesellschaft und die Behörden im Umgang mit  Obdachlosen wie AJ?

Tari Kataoka: „Zunächst halte ich die Anforderungen die an Obdachlose gestellt werden, nämlich sich regelmäßig bei z.B. der Diakonie, zu melden, um eine postalische Erreichbarkeit aufrecht zu erhalten, für sinnvoll. Ich kann es zwar verstehen, dass für den einen oder anderen Obdachlosen diese Regelmäßigkeit schwer einzuhalten ist, doch wer wirklich weg will von der Straße, dem darf diese Hürde nicht zu hoch sein. Doch das eigentliche Problem liegt meines Erachtens wesentlich tiefer. Als Gesellschaft sollten wir darauf achten, dass Kinder ein behütendes und sicheres Elternhaus haben. Ich glaube, dass hier nicht nur KiTas, Schulen und Jugendämter gefragt sind, sondern auch Kirchen und Vereine. Sie alle können dazu beitragen, dass es Kindern gut geht und sie eine Lebensperspektive entwickeln. Hier sind mir diese Einrichtungen mitunter viel zu zögerlich und zurückhaltend. Wir sollten gerade Kindern ermöglichen, sich in ihrer Freizeit zu entfalten, neue Dinge und Menschen kennenzulernen, um ihren Horizont zu erweitern. Geld spielt dabei eine große Rolle, damit sich auf der anderen Seite Menschen engagieren können. Daher kann ich nur hoffen und bitten, dass wir als Gesellschaft eine viel größere Geber- und Spenderkultur entwickeln. Zum Glück geschieht das bereits in vielen Einrichtungen wie etwa der kinder-tafel Vohwinkel, doch es könnte noch wesentlich mehr sein.“

AJ in seiner trockenen Unterkunft, die er nur eine kurze Zeit geniessen konnte – © Taro Kataoka

DS: Ist Hilfe zur Selbsthilfe in diesen Fälle überhaupt noch das geeignete Mittel? 

Taro Kataoka: „Ja, aber es bedarf meiner Meinung nach eines starken Teams, das sich um den Einzelnen kümmert. Ich spreche von Anlaufstellen, die bei Behördengängen helfen; Therapeuten, die begleiten und zum Gespräch bereit stehen und von Ehrenamtlichen, die sich Zeit nehmen. Über allem steht aber die Frage danach, ob der Betreffende selbst will und entsprechend kooperiert. Ist das der Fall, kann es sicherlich gelingen.“

DS: Können wir als Gesellschaft aus sozialen, moralischen und ethischen Gründen überhaupt zulassen oder hinnehmen, dass Menschen bei Wind und Wetter schutzlos unter einer Brücke leben?

Taro Kataoka: „Das ist eine schwierige Frage. Mancher Obdachlose hat sich mit dieser Situation arrangiert und sich wie AJ recht ordentlich eingerichtet (bis ihm vor Kurzem seine Unterkunft niedergebrannt worden ist). So sehr ich das nicht nachvollziehen kann, muss ich es aber akzeptieren. Denn das gehört zur Freiheit des Einzelnen. Und doch wünsche ich mir, dass unsere Städte frei werden von Obdachlosen, nicht weil ich sie als störend empfinde, sondern weil ich ihnen wünsche, ein festes Dach über dem Kopf zu haben und ein sicheres Auskommen. Doch leider können unsere obdachlosen Mitmenschen aus den geschilderten Gründen sehr wohl durch unser Sozialnetz hindurchfallen. Hier wünsche ich mir barmherzige Mitmenschen, die helfend bereit stehen. Doch das lässt sich ja nicht verordnen. Und so kann ich nicht anders als zu sagen, dass der überwiegende Teil unserer Gesellschaft viel zu egoistisch und egozentrisch unterwegs ist. Denn ansonsten würden wir Obdachlose viel herzlicher und mitfühlend aufnehmen.“

DS: Welche Lehren haben Sie persönlich aus dieser außergewöhnlichen Beziehung auf Zeit gezogen?

Taro Kataoka: „Ich würde es immer wieder tun. Und so habe ich den Kontakt zu AJ, der inzwischen eingeschlafen ist, nicht aufgegeben. Allein, ich komme derzeit nicht dazu, Wochenende für Wochenende nach Elberfeld zu fahren. Aber ich bin sicher, dass wir uns immer wieder freundlich begegnen werden und dann auch einen frischen Kaffee miteinander trinken werden.

Lebt wieder auf der Platte und freut sich über jeden Almosen: Der Obdachlose AJ – Taro Kataoka

DS: Welche Perspektiven für die Zukunft sehen Sie für AJ?

Taro Kataoka: „Da AJ gesundheitlich angeschlagen ist und keine Krankenversicherung hat, sehe ich für ihn keine rosigen Zeiten. Die Obdachlosigkeit ist für ihn dabei nicht zuträglich. Aber da er sich schwertut, behördliche Regeln einzuhalten, dürfte es sehr schwierig für ihn sein, aus der Obdachlosigkeit heraus zu kommen.“

DS: Was wünschen Sie AJ zu Weihnachten und werden Sie aus Anlass dieses  Festes, dass für viele Menschen ein Fest der Liebe, des Friedens und der Geborgenheit ist, noch einmal den Kontakt zu AJ suchen?

Taro Kataoka: „Ich wünsche AJ weiße Weihnachten und klirrende Kälte. Denn ich war nicht schlecht überrascht, als er mir mal sagte, dass Schnee „super“ sei. Die Menschen hätten dann offensichtlich mehr Mitleid mit Obdachlosen und gäben mehr Almosen. Sollte es daher schneien, freue ich mich mit AJ auf mehr „Umsatz“. Doch wenn es dunkel wird, kann ich mir vorstellen, ihn nochmals zu uns nach Hause einzuladen, sofern ich ihn finde. Denn wo er sich derzeit aufhält, weiß ich nicht. Aber so Gott will, werde ich ihn finden.“

DS: Glauben Sie, dass Sie jemals noch einmal emotional in der Lage sein werden, einen Menschen, der sich in einer ähnlichen Lage wie AJ befindet, so nah an sich herankommen zu lassen?

Taro Kataoka: „Absolut ja! Ich bin ja nicht enttäuscht worden. AJ hat es für sich selbst nicht geschafft. Von daher habe ich seine Situation nicht persönlich genommen und schon gar nicht emotional. Bei aller Nähe und allem engen Kontakt mit viel offenen Worten, ist doch noch eine Distanz geblieben. Ich glaube, dass die auch nötig war und ist.“

DS: Welche Wünsche haben Sie selbst für sich und Ihre Familie für Weihnachten und die fürs neue Jahr?

Taro Kataoka: „Ich freue mich auf die Begegnung mit unseren Kindern und ihren Partnern. Ich freue mich auf gesellige Momente und hoffentlich friedvolle Tage. Ich wünsche mir, dass wir als Familie gemeinsam einen Gottesdienst besuchen und Jesu Menschwerdung vergegenwärtigen. Für das neue Jahr wünsche ich mir und uns allen Gesundheit und Gottes Segen.“

Text und Interview: PETER PIONKE

 

Taro Kataoka – © privat

Über Taro Kataoka

Taro Kataoka – Jahrgang 1966 – ist japanisch-deutscher Abstammung, seit über 25 Jahren verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Nach der mittleren Reife an einer japanischen Schule, hat er zunächst die Fachoberschulreife, dann das Abitur an deutschen Schulen gemacht. Anschließend erlernte er den Beruf des Bankkaufmanns.

Taro Kataoka leistete Zivildienst und arbeitete einige Jahre bei einem japanischen Unternehmen. Anschließend studierte er Theologie. Nach zehn Jahren im Pastorenberuf begann er ein Fotodesign-Studium und schloß dieses mit dem Diplom ab.

Die Kamera ist seither sein ständiger Begleiter, zunächst meist nebenberuflich im Bereich der Eventfotografie. Inzwischen arbeitet er selbständiger Fotodesigner und betreibt ein eigenes Fotostudio. http://www.kataoka-fotografie.de/

Als interkulturell aufgewachsener Mensch ist Taro Kataoka an anderen Kulturen interessiert. Er lernt gerne neue Menschen kennen und tritt mit ihnen in Interaktion.

Als gläubiger Christ liebt er Gott, seine Nächsten und das Leben. Ein Beispiel dafür sind Hilfstransporte mit einem 40-Tonnen- Lkw nach Südost-Europa, die er ehrenamtlich unternimmt. Mindestens einmal im Jahr ist er unterwegs, um Menschen mit Lebensmitteln und Kleidung sowie weiteren Hilfsgütern zu versorgen.

Nicht zuletzt ist Taro Kataoka Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „Kinder-Tafel-Vohwinkel e.V., der die Kindertafel und den betreuten Spielplatz „Sternpunkt“ in Vohwinkel betreibt und betreut  http://www.kinder-tafel-vohwinkel.de

 

 

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