15. Dezember 2022Peter Pionke
Als ein Kuchen das schönste Weihnachtsgeschenk war
Mal unter uns! „Wenn wir schon morgen kein Dach mehr über dem Kopf haben, haben wir wenigstens noch etwas zu essen!“ Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass dieser fatalistische Spruch 1944 ganz normal war. Ohne Galgenhumor ging es damals gar nichts.
Sechs Jahre Krieg in unserem Land hatten Spuren hinterlassen – Ängste, Sorgen, Hunger! Es fehlte an allem: Heizmaterial, Wasser, Nahrungsmitteln, Bekleidung.
Jeder Tag war eine neuer Überlebenskampf. Als neunjähriges Mädchen habe ich diese Zeit miterlebt. Heute, viele Jahrzehnte erwachsen, frage ich mich: Wie hat meine Mutter das nur alles geschafft?
Sie zauberte aus Wald-Brennesseln ein Gericht, aus selbst gepflückten Brombeeren eine Suppe oder ein Getränk. Und auch aus Melde, die Großvater im Garten angebaut hatte und die ich im Einkaufsnetz nach Hause trug, kochte sie eine leckere Mahlzeit.
Wie hat sie es nur immer wieder geschafft, nachts meine beiden Brüder und mich aus dem Schlaf zu reißen, um in Windeseile gemeinsam mit ihr im Luftschutzkeller oder Bunker Schutz vor Bomben zu suchen?
Fast jede Nacht kam über den sogenannten „Drahtfunk“ im Volksempfänger mit krächzender Stimme der Warnruf: „Achtung, Achtung – feindliche Flugzeuge auf dem Weg ins Ruhrgebiet!“
Die meisten deutschen Städte lagen bereits in Schutt und Asche. Und wir stellten uns jedes Mal wieder die bange Frage: „Steht das Sechs-Familienhaus, in dem wir wohnten, überhaupt noch, wenn wir aus dem Luftschutzkeller kommen?“
Ich erinnere mich ganz genau an Heiligabend 1944. Der Weihnachtsbaum stand geschmückt auf der Singer-Nähmaschine. Morgen sollte Bescherung sein. Das war bei den meisten Familen Tradition.
Mutter hatte etwas Mehl und ein Ei besorgen können: Wir Kinder sollten an Weihnachten wenigstens ein Stück Kuchen geschenkt bekommen bekommen. Unser Vater holte schließlich einen duftenden Kastenkuchen aus dem Bockofen.
Ein Wohlgeruch erfüllte das ganze Zimmer. Da stand er, der Kuchen, mit einer goldgelben Kruste überzogen und noch dampfend. Ich dachte: „Heute ist ja Heiligabend, da werden die bösen Flieger garantiert nicht kommen.“ Ich hatte mich leider getäuscht. Denn schon klang es aus dem Drahtfunk: „Achtung, Achrtung – feindliche Flieger nehmen Kurs aufs Ruhrgebiet.“
Vater schlug Alarm: „Schnell, schnell, jeder nimmt sein Köfferchen und ab in den Bunker!“ Er hatte offensichtlich große Sorge, dass die Jagdbomber diesmal den Westen von Wuppertal angreifen könnten, der bis dato verschont geblieben war.
Dank an Mütter und Väter
Panik und Hektik lagen in der Luft! Alle rannten durcheinander. Vater nahm seine alte abgegriffene Kunstleder-Aktentasche, rannte zum Kuchen und ließ diesen kurzerhand noch heiß und dampfend in der Aktentasche verschwinden.
Dabei sagte er den prägnanten Satz: „Wenn wir schon morgen kein Dach mehr über dem Kopf haben, haben wir wenigstens noch etwas zu essen!“ Diese Aussage hat sich förmlich in mein Gehirn gebrannt. Jedes Jahr Weihnachten danke ich dem Himmel für das Dach, das ich über dem Kopf habe und für den Kuchen, den ich mir selber schenke.
Ich betone hier stellvertretend für meine Generation: „Vielen Dank den Müttern und Vätern für ihre Selbstlosigkeit und für die Fürsorge in sechs Jahren Krieg!“ Diese Weihnachts-Geschichte ist übrigens ein Ausschnitt aus meinem Buch „Plötzlich war ich 84 und hatte es gar nicht bemerkt“, das demnächst erscheint.
Ich wünsche allen ein schönes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr.
Gemiessen Sie die Weihnachtszeit bei einem duftenden Kaffee und einem köstlichen Stück Kastenkuchen.
Ihre Lore Duwe/Euer Lörken
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