24. Juni 2023Peter Pionke
Jan Filipzik: Fazit einer Reise durch Indien
Gerochen habe ich es vorher schon, aber als ich die Kopfhörer aus den Ohren nehme, höre ich es auch: Um mich herum wird gebrochen, gewürgt und gekotzt. Den halben Bus hat es erwischt, kaum einer, der nicht eine der kleinen dunklen Plastiktüten in Griffweite hat.
Jede Kurve wirft den Körper unsanft von links nach rechts, dazwischen dudelt laut Musik, weil jemand sich Videos auf dem Handy anschaut, ab und zu bekomme ich von den noch zusteigenden Reisenden im Vorbeigehen einen Ellbogen oder Rucksack ins Gesicht.
Dann plötzlich riecht es intensiv nach Curry, weil ein Unerschrockener meint, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sein Abendessen auszupacken. Die Reise mit dem Nachtbus von Dharamshala im Norden Indiens zurück nach Delhi zählt zu den intensivsten Fahrten, die wir bislang auf unserer Weltreise erleben durften.
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Und damit ist sie ein gutes Beispiel auf die abschließende Frage, wie Indien denn jetzt eigentlich gewesen ist: Unglaublich intensiv, in jeder Hinsicht.
Bevor ich zu einem – sehr subjektiven – Fazit unserer monatelangen Reise durch Indien komme, noch schnell erzählt, wie es nach Delhi für uns weiterging. Die Entscheidung, in den Norden zu reisen, stellt sich als goldrichtig heraus. In Shimla ist es deutlich kühler als in Delhi, abends ziehen wir sogar hin und wieder lange Hose, Pullover, Schal und Mütze an – das aber ist allemal besser, als in Indiens Hauptstadt bei Temperaturen von bis zu 40 Grad zu braten.
Shimla ist ein ehemaliger britischer Luftkurort, hierhin hat sich die Administration in den heißen Sommermonaten zurückgezogen – und ich kann auf Anhieb verstehen, warum. Die Landschaft ist schön, grüne Berge so weit das Auge blickt, noch dazu ist es deutlich ruhiger und entspannter als in den großen Städten.
Die Zeit in Shimla verbringen wir ruhig: Wir gehen ein bisschen spazieren, sitzen in schönen Cafés, schauen uns den ehemaligen britischen Verwaltungssitz an, sehen unglaublich viele Affen, geraten unversehens mitten in ein kleines Festival, sind ein paar Tage etwas krank, liegen im Bett und werden schließlich wieder gesund.
Nach Shimla schauen wir uns Dharamshala an. Zehn Stunden Fahrt mit dem Bus sind es bis hierhin, wir bleiben insgesamt sieben Nächte. Mir persönlich gefällt die Stadt noch einmal deutlich besser als Shimla, was vor allem an den Vibes liegt. Dharamshala ist der Sitz der tibetischen Exil-Regierung, der Dalai Lama wohnt gleich um die Ecke und der Buddhismus ist allgegenwärtig.
Zahllose Mönche laufen durch die Straßen, überall gibt es kleine tibetische Läden und Tempel, ein wirklich sehenswertes Museum erzählt von der tragischen Geschichte des kleinen Landes – doch trotzdem liegt über allem ein Gefühl von Heiterkeit und Optimismus.
Einziges Manko der Stadt: Auch hier gibt es unglaublich viel Verkehr, unzählige Autos und Motorräder schieben sich laut hupend durch die engen Straßen – und in den wenigen Momenten, in denen es still ist, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie viel schöner es wäre, wenn die Menschen die Hupe nicht erfunden hätten.
Oder zumindest ganz Indien mit einem ausnahmslosen Hup-Verbot belegt werden würde. Denn das ist ein Punkt, der mich in den ganzen Monaten in zunehmendem Maße stresst. Was wiederum eine gute Überleitung ist, zu meinem Fazit, bei dem ich allerdings mit den schöneren Dingen beginnen möchte. Also, wie ist Indien denn nun?
* Indien gehört zu den vielfältigsten Ländern, die ich bislang bereist habe. Nord und Süd unterscheiden sich extrem – lange Sandstrände auf der einen, schneebedeckte Berge auf der anderen Seite, dazwischen Wasserstraßen, große Städte, Wüstenregionen, Dschungel und immer wieder das Meer. Landschaftlich gibt es hier so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann, und das in einem einzigen Land.
* Indien ist ein sehr leckeres und günstiges Reiseland. Für ein gutes Essen in einem schicken Restaurant zahlt man zu zwei nicht mehr als zehn Euro, an Straßenständen ist es oftmals nur ein Bruchteil davon, ein Tee beispielsweise kostet hier gerade einmal zehn Cent. Auch Unterkünfte gibt es bereits für wenige Euro – wobei ich sowohl beim Essen als auch beim Hotel empfehle, im Zweifelsfall ein wenig mehr auszugeben. Sonst hat man schnell eine Lebensmittelvergiftung oder kämpft mit akutem Kakerlaken-Befall auf dem Zimmer.
* Gleichzeitig würde ich Indien als absolut sicheres Reiseland beschreiben, zumindest in unserer Konstellation als Paar. Es gab in den ganzen Monaten keinen einzigen Moment, keinen Ort, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, in oder an dem wir uns unsicher gefühlt hätten.
* Dabei ist Indien intensiver als jedes andere Land in Asien, das ich kenne. Es gibt hier von allem mehr, leider auch von den Dingen, die weniger schön sind: mehr Müll, mehr Dreck, mehr Gestank, mehr Lärm und mehr Gerüche. Hinzu kommt das vor allem im Norden verbreitete ständige, lautstarke Spucken. Das ist inzwischen zwar an Bahnhöfen und in anderen öffentlichen Einrichtungen verboten, ansonsten begleitet es einen aber nach wie vor fast überall.
* Der Verkehr in Indien ist eine Katastrophe. Dabei geht es gar nicht darum, dass die Autos, Motorräder und Tuk Tuks in fünf Reihen wild durcheinanderfahren, wo eigentlich nur zwei oder drei Spuren vorgesehen wären, sondern vor allem um die Rücksichtslosigkeit und das ununterbrochene Hupen, das nur in wenigen Fällen überhaupt nötig wäre. So aber ist es ein Geräusch, das einen ständig begleitet, das nie weggeht und zumindest mich mit der Zeit zunehmend gestresst hat. Entsprechend schwierig ist es auch, als Fußgänger unterwegs zu sein, zumal es kaum Gehwege gibt, die nicht kaputt, vollgestellt oder zugemüllt sind, so dass die meisten Menschen einfach neben den Autos auf der Straße laufen.
* Auch mit Bus und Bahn ist die Fortbewegung in Indien grundsätzlich etwas schwieriger als in anderen Ländern Asiens. Die Bahnen sind oft Wochen im Voraus ausgebucht, noch dazu ist es für Ausländer schwer, online an Tickets zu kommen. Das Busnetz wiederum ist zwar gut ausgebaut und die Tickets gibt es auch ganz einfach per App, allerdings sind die Abfahrtsorte meist ungenau eingezeichnet, was dazu führt, dass es am Transfertag oft ein wenig hektisch wird und es einige Anrufe braucht, bis man dort ist, wo man sein sollte.
* Dabei sind die Inder grundsätzlich sehr freundlich und hilfsbereit. Sobald wir irgendwo stehengeblieben sind und suchend auf unser Handy geschaut haben, kam in kürzester Zeit jemand, hat uns gefragt, ob wir Hilfe brauchen, uns den Weg gezeigt, erklärt, wie wir zu unserem Ziel kommen.
* Allerdings – und wie gesagt, das ist meine persönliche Sichtweise – hatte ich mit der Zeit das Gefühl, dass diese Freundlichkeit nur dann da ist, wenn sie nichts kostet. Denn sobald es darum geht, selbst zurückzustecken, habe ich die Inder – im Norden stärker als im Süden – als sehr egoistisch und selbstbezogen erlebt. Das zeigt sich im Straßenverkehr, wo ausnahmslos das Recht des Stärkeren gilt und Fußgänger ganz unten in der Hierarchie stehen. In Schlangen und auf Fußgängerwegen wird rücksichtslos gedrängelt, gerempelt und geschoben. Dass jemand einmal zur Seite tritt und jemand anderen vorlässt, dass jemand in einem schmalen Gang sein Gegenüber zuerst gehen lässt, dass jemand wartet, wenn derjenige vor ihm nicht ganz so schnell ist – das habe ich in all den Monaten in Indien selten erlebt.
* So ist bei mir der Eindruck entstanden, dass es in der indischen Gesellschaft in Teilen die Sorge gibt, bei irgendetwas zu kurz zu kommen und viele deshalb meinen, sich rücksichtslos nehmen zu müssen, was ihnen vermeintlich zusteht. Vielleicht ist es auch Ausdruck des nach wie vor bestehenden Kastensystems, dass einige Menschen glauben, mehr wert zu sein als andere. Das zeigt sich leider auch im Straßenverkehr.
Mehr als einmal haben wir gesehen, wie ein Rollerfahrer von einem Auto umgefahren wurde, woraufhin der Autofahrer nach kurzer Zeit weitergefahren ist, oftmals ohne überhaupt auszusteigen. Für mich persönlich ist das etwas, mit dem ich sehr schwer umgehen kann und das mich mit zunehmender Zeit immer mehr abgestoßen hat.
* Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass die Menschen das alles überhaupt nicht böse meinen, die Intention dahinter ist keine schlechte. Sie sind einfach so, es ist Teil ihrer Kultur. Wo wir uns auf den Schlips getreten fühlen, wenn wir angerempelt werden und sich jemand vordrängelt, lacht das Gegenüber hier und alles ist gut. Dabei haben die Inder im Gegensatz zu uns auch ein anderes Verhältnis von Nähe und Distanz. So ist es im Bus völlig normal, komplett verschwitzt und ganz eng nebeneinander zu sitzen, Freunde gehen Arm in Arm, Männer halten Händchen, miteinander Unbekannte tauschen sich aus und stehen sich in kürzester Zeit nahe.
Das zeigt sich auch daran, dass die Inder ausgesprochen aufgeschlossen sind – und besonders Ausländer finden sie spannend. Was dazu geführt hat, dass wir nicht nur unentwegt angestarrt, täglich angesprochen und nach unserer Herkunft gefragt worden sind, sondern auch für unzählige Fotos herhalten mussten, auf denen wir jetzt Arm in Arm mit fremden Indern stehen und freundlich lächeln. Oft allerdings sind wir auch vermeintlich heimlich fotografiert und gefilmt worden, worauf man sich als Tourist ebenfalls einstellen sollte.
* Das alles macht Indien zu einem spannenden, aber eben auch nicht einfachen Reiseland. Wenn du nur schöne Strände, eine atemberaubende Natur und tolle Städte haben möchtest: vergiss Indien und fahr woanders hin. Man kann sich zwar auch hier für Geld von vielen der unangenehmen Sachen freikaufen und seine Zeit ausnahmslos in teuren Ressorts und auf geführten Touren verbringen, allerdings ist das, zumindest aus meiner Sicht, ziemlich sinnbefreit und hat mit dem echten Indien wenig zu tun.
Indien ist ein Land, für das man viel Kraft, Geduld und Ruhe braucht, das einen Demut und im besten Fall Gleichmut und Gelassenheit lehrt und aus dem man stärker wieder geht als man gekommen ist. Nach Indien gibt es nicht mehr viel, was dich im Bezug aufs Reisen erschüttern kann – und das ist ein beruhigendes Gefühl. Würde ich also noch einmal wiederkommen?
Ja, vermutlich schon, allerdings für einen kürzeren Zeitraum und definitiv mit einem Plan für ein paar entspannte Tage danach, denn die braucht es. Und in dem Sinne freue ich mich jetzt auf unseren letzten Tag in Delhi, bevor es morgen weitergeht: Wir fliegen für fünf Nächte nach Singapur und verbringen dann anschließend zwei Monate in Indonesien. Und beides kommt zum genau richtigen Zeitpunkt.
Jan Filipzik
20. Juni 202
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