12. Oktober 2023Peter Pionke
Aufreger im Tal: Zuviel Gemächt am starken Geschlecht
1901 aber, löste die männliche Nacktheit am neuaufgestellten Jubiläumsbrunnen/Neptunbrunnen im Zentrum von Elberfeld einen Sturm der Entrüstung bei Kirche und Gesellschaft aus, der so weit ging, dass man die Figuren sogar kastrierte.
Die Kunstgeschichtlerin Doris Lehmann lehrt an der Bergischen Universität und kennt die turbulente Geschichte des denkmalgeschützten Elberfelder Brunnens ganz genau. Mit ihr hat sich Autor Uwe Blass in der beliebten Uni-Reihe „Transfergeschichten“ über das pikante, kulturelle Aufreger-Thema unterhalten.
Der Jubiläumsbrunnen/Neptunbrunnen wurde 1901 eingeweiht. Im gründerzeitlichen Elberfeld schenkte der Verschönerungsverein der Stadt Elberfeld diesen beeindruckenden Brunnen, der ein berühmtes Vorbild hat.
„Das Vorbild für den aus Anlass des 25jährigen Jubiläums des Verschönerungsvereins 1895 gestifteten Brunnens ist die von Francesco Antonio Giongo entworfene „Fontana del Nettuno“, die seit 1769 auf dem Domplatz in Trient steht“, erklärt die Kunstdozentin.
Fontana del Nettuno aus Trient ist Vorbild für Elberfelder Brunnen
Dieser Neptunbrunnen war 1865–73 aufwändig von Andrea Malfatti, einem damals in Italien hoch geschätzten Bildhauer, restauriert worden. Als der Jubiläumsbrunnen im Zusammenhang mit der Errichtung des neuen Elberfelder Rathauses geplant wurde, bekrönte den Brunnen in Trient noch die Originalfigur, die Stefano Salterio angefertigt hatte. Diese war wie der Neptun in Wuppertal aus Stein und wurde erst während des 2. Weltkriegs von ihrem Platz entfernt.
Heute befindet sie sich im Trentiner Castel Thun. Den Brunnen ziert nun eine Bronzekopie.“ Außerdem besitze der italienische Neptun nur wenig Ähnlichkeit mit der Wuppertaler Figur, erklärt Doris Lehmann. Das Vorbild sei deutlich schlanker und drehe sich elegant um seine Körperachse. „Der Jubiläumsbrunnen ist auch in anderen Teilen eine freie Kopie: Eine Zutat des Düsseldorfer Bildhauers sind die Gesichter, die in den Kartuschen am Brunnenschaft platziert sind. Die Haar- und Barttracht deuten darauf hin, dass hier Zeitgenossen verewigt wurden.“
Jubiläumsbrunnen in Wuppertal schuf Leo Müsch
Den Auftrag für den Elberfelder Brunnen erhielt der Düsseldorfer Bildhauer Leo Müsch (1846 – 1911). „Er stammte gebürtig aus Düsseldorf und lernte Bildhauerei bei den dort ansässigen Akademieprofessoren Julius Bayerle und August Wittig“, erzählt Lehmann.
„Müsch war zeitweise im Atelier des Dombildhauers Christian Mohr in Köln tätig und übernahm verschiedene Aufträge im Rheinland. Bevor er den Jubiläumsbrunnen anfertigte, hatte er bereits für den Corneliusplatz in Düsseldorf einen Schalenbrunnen angefertigt und im damals noch eigenständigen Cronenberg den Drei-Kaiser-Wasserturm mit Bildnismedaillons geschmückt. Einige Wuppertaler kennen sicher auch das Grabmal, das er für den 1899 verstorbenen Oberbürgermeister Elberfelds, Adolf Jaeger, geschaffen hat.“
Ein Brunnen erzählt eine Geschichte
Die Hauptfigur verkörpere den römischen Gott Neptun, der in der Antike für fließende Gewässer zuständig war, sagt Lehmann und erklärt im weiteren die Bedeutung der großangelegten Plastik. „Neptun war der Beschützer der Quellen und damit auch unseres Brunnens. Erkennbar ist Neptun an seinem Dreizack und der muskulösen und bärtigen Aktgestalt.
Statt des typischen Hüftmantels sind seine Lenden mit einem Netz umgürtet, einem Hinweis auf das Gewerbe der Fischerei. Anders als seine Vorgänger in Florenz, Bologna oder Rom, trägt unser Wuppertaler Neptun zudem eine Krone aus Schilf, ein altes Kennzeichen für Flussgötter. Neptuns Erscheinung wird begleitet von seinem Gefolge. Dieses besteht aus Wesen, die seit dem Altertum ihm und dem Element Wasser zugeordnet wurden. Zu seinen Füßen erkennen wir Delfine, die antikisch gestaltet sind und seine Macht über das Meer repräsentieren.“
Die Expertin für Kunstgeschichte und Archäologie weiter: „Die Brunnenarchitektur wird bevölkert von mythischen Mischwesen mit Fischschwänzen: Tritonen (Mischwesen mit menschlichem Oberkörper und fischartigem Unterkörper) blasen Muscheln, im Wasser der Brunnenschale tummeln sich Meereskentauren (Mischwesen aus Pferd und Mensch) und Nereiden (Nymphen des Meeres), die auf pferde- und pantherköpfigen Hippokampen (Fabelwesen, vorne Pferd hinten Fisch) reiten. Sie veranschaulichen Lebenslust und Lebensfreude, die das Wasser hervorbringt. Der Standort nahe dem neuen Elberfelder Rathaus verweist aber auch darauf, dass Neptun in seiner Funktion als Herrscher die Wogen im Gemeinwesen zu glätten vermag.“
Die Architektur und die Figuren des Jubiläumsbrunnens bestehen aus rotem Mainsandstein, weiß Lehmann, der aus dem Mainviereck stamme, wo seit dem Mittelalter in unterschiedlichen Steinbrüchen verschiedene Werksteinsorten abgebaut und über den Main verschifft wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei roter Mainsandstein im gesamten Deutschen Reich und auch über dessen Grenzen hinaus ein beliebtes Material für repräsentative Zwecke gewesen. Das könne man auch heute immer noch erkennen. „Wenn man mit offenen Augen durch das Rhein-Main-Gebiet fährt, entdeckt man bestimmt einige solcher Gebäude.“
Aufstellung des Brunnens löste einen Sturm der Entrüstung aus
„Die Brunnenfiguren waren damals provokant“, beginnt Lehmann. „Um 1900 war die künstlerische Freiheit in Deutschland sehr umstritten und noch nicht gesetzlich gesichert. Wilhelm II. versuchte damals die allgemeine ‚Unsittlichkeit‘ durch eine radikale Verschärfung der ohnehin bestehenden Zensur zu beseitigen. Ausgehend von einem Prozess um einen straffällig gewordenen Zuhälter, zielte die vom Kaiser initiierte sogenannte ‚Lex Heinze‘ zunächst auf strafrechtliche Grundlagen gegen Pornografie, Kuppelei und das Schamgefühl verletzende Theateraufführungen. Der geplante ‚Kunst- und Schaufensterparagraf‘ jedoch schloss sogar die Ausstellung von Darstellungen ein, die als ‚unzüchtig‘ aufgefasst werden konnten oder auch nur dazu geeignet waren, Ärger ‚durch gröbliche Verletzung‘ des Scham- und Sittlichkeitsgefühls zu erregen.“
Darunter fielen alle Aktdarstellungen und auch das Modellstehen als Beruf, weswegen 1900 Satireblätter die Venus von Milo und Darstellungen von Adam und Eva karikierten, die beispielsweise von Polizisten abgeführt wurden. „Wir müssen uns vor Augen führen, dass Frauen in Deutschland noch keinen Badeanzug kannten, sondern Badekleider mit Beinkleid darunter trugen“, erklärt die Kunstwissenschaftlerin.
„Der Anblick männlicher Genitalien auf einem öffentlichen Platz, auch wenn sie Bestandteile idealisierter Aktskulpturen waren, erregte dementsprechend Aufmerksamkeit. Ein Jahr zuvor hatte Wilhelm II. persönlich das Rathaus feierlich eingeweiht. Da waren die unbedeckten Blößen ein Schlag ins Gesicht der Sittenwächter.“
Die Zerstörungswut entlud sich dementsprechend schnell. Dazu Lehmann: „Der Brunnen wurde durch Vandalismus teilzerstört und zensiert. Unbekannte schlugen den Figuren die umstrittenen Körperteile ab.“
Akanthusblätter verhüllen die Scham
Als Konsequenz gab es keine Einweihungsfeier und der Künstler restaurierte die Brunnenfiguren, indem er die beschädigten Stellen mit Akanthusblättern verdeckte. Doch damit nicht genug. „Die Stadtverordnetenversammlung diskutierte, ob der Brunnen vollständig entfernt, zensiert erhalten oder wiederhergestellt werden sollte. Letztlich entschied sie sich für den Kompromiss, die zensierte Fassung zu erhalten. Unser Neptun befand sich damit in guter Gesellschaft: Queen Victoria war so schockiert über die Blöße von Michelangelos David, dass der von ihr 1857 dem Kunstgewerbemuseum in London gestiftete Gipsabguss mit einem eigens angefertigten – immerhin wieder abnehmbarem – Feigenblatt- verhüllt wurde.“
100 Jahre später ist Kunst im öffentlichen Raum immer noch gefährdet
Nach über 100 Jahren haben sich die Gemüter in Bezug auf den Jubiläumsbrunnen beruhigt. Aber Kunst im öffentlichen Raum ist auch heute immer wieder Opfer von Vandalismus. „Heute werden die zum Teil verhüllten idealen Akte toleriert, eine Wiederherstellung des Originalzustands fordert niemand und würde sicher neue Entrüstung auslösen“, sagt Lehmann, denn letztlich habe Vandalismus viele Gesichter.
„Wenn das Brunnenbecken, wie vor kurzem, mit Farbe besprüht, als Aschenbecher oder zur Entsorgung von Abfall verwendet wird, dann fällt das ebenso unter Vandalismus wie die großen Mengen an Wasch- oder Spülmittel, die anderenorts in Brunnen gefüllt werden. Das Ergebnis ist keine lustige Schaumparty, sondern gemeinschädliche Sachbeschädigung, da in einem solchen Fall nicht nur die Innenstadt gereinigt werden muss, sondern auch Tausende Liter Wasser und Leitungssysteme mit erheblichem Aufwand und entsprechenden Kosten gereinigt werden müssen.“
Soziale Kontrolle könne das zwar eindämmen, aber nicht jedes Denkmal im öffentlichen Raum sei 24 Stunden am Tag bewacht. Daher sei Aufklärung durch eine gute Kunstvermittlung wichtig, fordert Lehmann, damit offene Fragen geklärt, Bewusstsein geschaffen werde und daraus Wertschätzung und Fürsorge entstünde. Das schütze auf Dauer.
„Wir sollten uns aber nicht der Illusion hingeben, dass Vandalismus unser einziges Problem ist. Werke bildender Kunst im öffentlichen Raum können auch heute noch heftige Diskussionen auslösen und Zensur wird von manchen für ein geeignetes Mittel gehalten, um Aktdarstellungen als unmoralisch aus unserem Leben zu verdrängen. Egal ob es sich um das Glied von Müschs Neptun oder Michelangelos David handelt oder um das breite Becken von Fritz Durings Primavera: Anders als Algorithmen sollten wir Kunst von Pornografie unterscheiden können. Wer erwartet, dass Kunst nur Wohlgefühle auslösen darf, hat kein Verständnis für die spezifischen Leistungen von Kunst entwickelt, um die seit Jahrhunderten gekämpft worden ist. Egal ob man nachts heimlich auf ein Kunstwerk einschlägt oder versucht es unbemerkt zu verstecken, beides ist von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt, und wer eine Meinung und Haltung hat, kann offen dafür einstehen, statt anonym die Freiheit der Kunst in Frage zu stellen.“
Kunst hält den Geist auf Trab
Mittlerweile wurde der Jubiläumsbrunnen als herausragendes Beispiel für die Bildhauerkunst des Historismus in die Baudenkmalliste der Stadt Wuppertal eingetragen. „Kunst im öffentlichen Raum hat für mich einen sehr hohen Stellenwert“, erklärt Lehmann zum Schluss. „Wir sind täglich davon umgeben, ob wir sie bewusst wahrnehmen oder unterschwellig. Sie verschönert unseren Alltag an so vielen Stellen und das tut uns gut, regt uns zum Nachdenken an und auch wenn es manchmal anstrengend ist, hält Kunst im öffentlichen Raum den Geist unserer Gesellschaft auf Trab.“
Uwe Blass
Über Dr. Doris H. Lehmann
Dr. Doris H. Lehmann ist gelernte Fotografin und studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, Provinzialrömische Archäologie und Lateinische Philologie an der Universität zu Köln und wurde 2005 ebenda promoviert. 2018 habilitierte sie sich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit einer Arbeit zu den Streitstrategien bildender Künstler in der Neuzeit und ist seitdem Privatdozentin. Seit Oktober 2018 lehrt sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin Kunstgeschichte an der Bergischen Universität.
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