10. November 2023Peter Pionke
Jan Filipzik: Kulturschock in Amerika
Nach zehn Monaten in Asien hatte ich mit unserer Weiterreise nach Amerika ein Kontrastprogramm erwartet – und das wird es, sogar krasser als erwartet. Zuvor aber steht eine echte Zeitreise an: Denn durch die Zeitverschiebung passiert es, dass wir abends in Tokio losfliegen, zehn Stunden in der Luft sind und noch am gleichen Tag, sogar am Vormittag, in Los Angeles landen.
Das ist schon ein lustiges Gefühl – und wird unsere innere Uhr die kommenden Tage ganz schön durcheinanderbringen. Doch in den ersten Stunden ist davon nichts zu merken, denn ich habe mich so sehr auf Los Angeles gefreut, dass ich mir im Bus in die Innenstadt wie ein kleines Kind die Nase an der Fensterscheibe plattdrücke.
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Vor 17 Jahren bin ich schon einmal hier gewesen und war schwer beeindruckt. Lange habe ich Los Angeles zu meinen Lieblingsstädten gezählt, doch was ich jetzt sehe, lässt mich ratlos zurück. Die Stadt ist deutlich kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte, die Hochhäuser in Downtown nach den ganzen Megastädten in Asien nicht beeindruckend und irgendwie ist alles ganz schön dreckig und heruntergekommen.
Als wir an der Union Station aussteigen und uns zu Fuß auf den 20 Minuten langen Weg zu unserer Unterkunft machen, sind die Vibes teils schräg und insgesamt wenig einladend. Überall liegt Müll am Straßenrand, die Gehwege sind rissig und gesprungen, zahlreiche Obdachlose schleichen durch die Straßen, auf den Grünstreifen stehen dreckige Zelte, ein Mann schreit uns aus seinem Pickup hinterher, ob wir Israelis seien – und ist erst zufrieden, als wir ihm versichern, dass wir aus Deutschland kommen.
Deutschland findet er nämlich ganz schön cool, wie er uns mitteilt, bevor seine Ampel auf Grün springt. Um es kurz zu machen: Los Angeles ist – gerade im Vergleich zu Südkorea und Japan – ziemlich verkommen und an einigen Stellen auch gar nicht ungefährlich. Allen voran steht hier das riesige Viertel Skid Row, das wir am ersten Abend aus Versehen und Unwissenheit auf unserem Rückweg vom Einkaufen streifen.
Später lese ich, dass hier die meisten Obdachlosen der Stadt leben – insgesamt bis zu 60.000 sind es in ganz Los Angeles, und damit etwa ein Zehntel aller Wohnungslosen in ganz Amerika.
Downtown, wo auch das Viertel Skid Row liegt, ist heftig, Hollywood bröselt auseinander und vom Glamour, den man in einer Stadt wie Los Angeles erwarten könnte, ist nirgendwo etwas zu sehen. Stattdessen den ganzen Tag Sirenen, verbeulte Autos auf den Straßen, seltsame Menschen in der U-Bahn und kaum jemand zu Fuß auf den Bürgersteigen. Erst nach und nach wird mir klar, was hier eigentlich los ist.
Denn es ist so: Während in Tokio die Stadt allen Menschen gehört und jeder überall und jederzeit am öffentlichen Leben teilhaben kann und möchte, ist das Leben in Los Angeles separiert. Es gibt Gründe, warum die Menschen lieber in einem verrosteten Auto durch die Straßen fahren, obwohl sie mit der Metro schneller und kostengünstiger an ihr Ziel kämen: Wer irgendwie kann, flüchtet in seine eigene Blase.
Krass zu sehen ist das natürlich an den vielen Stars, die hier leben: Justin Bieber, die Kardashians, Tom Hanks, Heidi Klum, Will Smith, Ben Stiller, Channing Tatum und Co., haben ihre eigene Welt. Riesige Villen, exklusive Restaurants, Orte, zu denen andere Menschen keinen Zugang haben.
Doch auch die normalen Bürger schotten sich so gut ab, wie es ihr Geldbeutel erlaubt. Sie wohnen in schicken Vierteln und versuchen dem Rest der Einwohner so gut es geht aus dem Weg zu gehen – und sei es, indem sie ein verbeultes Auto fahren, anstatt den Nahverkehr zu nehmen.
Jeder tut alles, um in die nächstbessere Blase zu kommen. Zurück bleiben die, die nirgendwo mehr hinkönnen, auf den Bürgersteigen und in den Straßen, ohne Blase, ihre Einkaufswagen vor sich herschiebend, der harten und erbarmungslosen Realität ausgesetzt. Was ich in Los Angeles erlebe, ist eine tief gespaltene Stadt, viel schlimmer, als ich es je in Deutschland, Europa oder anderswo auf der Welt gesehen habe – und ich bin geschockt.
Es dauert, bis ich mich an die neue Situation gewöhne und die schönen Seiten der Stadt genießen kann. Da ist zum Beispiel die kostenlose Ausstellung im „The Broad“, einem Museum für zeitgenössische Kunst, das von einem philanthropischen Ehepaar ins Leben gerufen wurde.
Die Menge der Werke und ihre Geschichten sind beeindruckend. Und es tut gut, im Gegensatz zu Südkorea und Japan, endlich wieder alles lesen und verstehen zu können.
Einfach mit den Menschen zu reden und ohne Hindernisse am Leben teilhaben – es ist schon beeindruckend, welche Macht Sprache hat. Als wir schließlich Santa Monica und Venice Beach besuchen, erinnere ich mich auch wieder, was ich an Los Angeles vor 17 Jahren so beeindruckend fand. Denn das Flair hier ist schon besonders, und diesmal im positiven Sinn.
Jeder kann sich ausleben, wie es ihm gefällt, völlig frei und ohne jegliche Probleme – alles ist erlaubt, alles ist in Ordnung. Passend dazu schauen wir uns ein paar bekannte Locations an, in denen die Serie Californication gedreht wurde, und trinken völlig überteuerte Softdrinks am Strand, während wir den Skatern zuschauen. Die Stadt kann schon cool sein, zumindest dann, wenn man in der richtigen Blase steckt.
Es sind nur zwei Tage, die wir in Los Angeles haben, bevor am dritten Tag unser Roadtrip durch Amerika startet: In drei Wochen werden wir einmal quer durchs Land bis nach Miami fahren. Auf dem Weg zu unserem Mietwagen laufen wir noch ein letztes Mal durch Downtown, es ist Sonntagmorgens, die Straßen noch leer, die Sonne wärmt und vertreibt die Kühle der Nacht – und plötzlich kann ich es sehen.
Den Charme, den auch dieses Viertel einmal gehabt hat. Ein altes Kino reiht sich an das andere, überall wunderschöne Häuserfassaden, ein breiter Boulevard. Ich bekomme eine Ahnung, wie es einmal gewesen sein muss, damals in den 1950er und 60er Jahren.
Und ich erinnere mich an ein Zitat von Andy Warhol, das ich im Museum „The Broad“ gelesen habe: „Everybody has their own America, and then they have the pieces of a fantasy America that they think is out there but they can’t see.” Wie passend, denke ich.
Während ein Großteil unseres Roadtrips noch ungeplant ist, steht das erste Ziel bereits fest: Es geht für eine Nacht nach Las Vegas, wo wir einen Freund von mir treffen, der eigentlich in Wuppertal wohnt, aber gerade auch in der Nähe ist, weil er seinen Vater besucht, der hier lebt. Mit jedem Meter hinaus aus Los Angeles wird die Gegend größer, weiter, eindrucksvoller.
Wir fahren nicht auf dem direkten Weg, sondern machen einen kleinen Schlenker durch die Mojave Wüste. Tumble Weed fliegt über die Straße, ein Roadrunner läuft uns über den Weg, im Radio läuft der Soundtrack des Films „Fear and Loathing in Las Vegas“, während die Sonne in der Wüste kurz vor Nevada langsam untergeht. Als sich der Himmel schließlich langsam rot färbt und ein endlos langer Güterzug irgendwo im Nichts neben uns zum Stehen kommt, fühle ich mich endgültig wie in einem Film.
Im Gegensatz zu Los Angeles ist Las Vegas ziemlich so, wie ich es in Erinnerung habe: Groß und bunt und schrill, abenteuerlich und voller Möglichkeiten. Um möglichst viel zu sehen, schlendern wir durch die bekannten Kasinos, tauchen an jeder Ecke in eine neue Welt ein, Paris, ein altes Schloss, eine Schatzinsel, die Pyramiden, New York und Venedig.
Ab und zu werfen wir ein bisschen Geld in die Automaten und schaffen es am Ende sogar, die Stadt mit 26 Dollar im Plus zu verlassen. Also wenn man die Kosten für die Übernachtung und die teuren Getränke einmal außer Acht lässt, versteht sich.
Nach einem kurzen Abstecher in das Fitnessstudio unseres Hotels, kehren wir am nächsten Tag den großen Städten endgültig den Rücken. Von Las Vegas aus machen wir uns auf den Weg zum Grand Canyon und es tut gut, endlich so richtig rauszukommen. Die Landschaft ändert sich mit jedem Kilometer, manchmal unmerklich, manchmal plötzlich, aber immer eindrucksvoll.
Wie kann ein Land nur so unvorstellbar groß sein, frage ich mich. Die riesigen Ebenen, der ewig weite Blick zum Horizont, 20 Kilometer Straße ohne eine einzige Kurve, sogar der Himmel hier scheint größer als anderswo.
Doch nicht nur die Landschaft ändert sich, auch die Menschen sind hier anders. Mehr Trump und weniger Biden, inklusive passender Kühlschrankmagneten und sogar einer Trump-Wahrsager-Puppe, bei der ich mich ziemlich erschrecke, als sie mich auf meinem Weg zum Klo plötzlich von der Seite anspricht.
Wir sind unterwegs auf einem Teil der historischen Route 66, machen Fotos von alten Autos, sehen zu, wie die untergehende Sonne der Landschaft endlos neue Facetten gibt, am Himmel die ersten Sterne auftauchen und schlafen schließlich in einem kleinen Hotel direkt am Eingang des Grand Canyon Nationalparks. Morgen geht es dann früh raus – ein neuer Tag dieser wunderbaren Weltreise steht an.
Jan Filipzik
10. November 2023
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