16. Dezember 2023Peter Pionke
Kunstkalender mit Gesichtern, die Geschichten erzählen
Michael Wessel, Inhaber von Pflege Wessel, erklärte bei der Ausstellungseröffnung: „Mit diesem Kunstkalender geht für uns ein lang geplantes Projekt in Erfüllung, Demenz und Kunst miteinander zu verbinden. Der Kalender soll Auftakt zu einer Kunstreihe sein, die wir mit immer neuen Ideen bereichern wollen.“
Über zehn Jahre lang hat Anna Schwartz in den Wessel-Pflege-Wohngemeinschaften Demenzkranke begleitet und ihre Gesichter fotografiert, in denen das lange Leben und die schwere Krankheit unverwischbare Spuren hinterlassen haben – ehrlich, authentisch, ungeschminkt.
Das beeindruckende Ergebnis sind Fotos, die berühren, zum Teil traurig stimmen, aber auch einen Hauch Hoffnung versprühen – wie das zufriedene Lächeln einer Seniorin, die Miene einer weißhaarigen, hochbetagten Frau, die gerade genüsslich eine Zigarette raucht oder der verschmitzte Gesichtsausdruck eines Seniors, der zu philosophieren scheint.
Anna Schwartz hat mit ihren Fotos Kunstwerke geschaffen. Und für die Angehörigen der Protagonisten – von denen einige als Gäste bei der Ausstellung dabei waren – ästhetische, bleibende Erinnerungen an einen geliebten, wertvollen Menschen.
Wir haben uns über den außergewöhnlichen Kunstkalender und dessen Botschaft mit Michael Wessel unterhalten:
DS: „Kunst und Demenz – ein emotionales Thema“. Wie ist das zu verstehen?
Michael Wessel: „Ich glaube, dass Kunst entsteht, wenn man das Leben von Menschen in Bilder umsetzt. Dann ergibt sich daraus von jedem Einzelnen eine Art Skulptur, die eine große Faszination ausstrahlt. Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch ein Kunstwerk ist. Und wenn es einem dann noch vergönnt ist, 90 Jahre alt zu werden, dann ist dieser Mensch ein ganz besonderes Kunstwerk, in dessen Gesicht sich all die Facetten seines Lebens widerspiegeln.“
DS: Wollen Sie das Thema Demenz mit Ihrem Kalender, der die markanten Gesichter an Demenz erkrankter Menschen zeigt, auf künstlerische Weise mehr ins Blickfeld der Gesellschaft rücken?
Michael Wessel: „In der Gesellschaft gibt es inzwischen schon ein Stück weit Akzeptanz für Menschen, die an Demenz leiden. Die Forschung, die Entwicklung sowie Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten sind bereits sehr vielschichtig. Nichtsdestotrotz stimmen die Lebensordnungen der Betroffenen mit unseren nicht mehr überein. Das darf uns aber nicht erschrecken. Es wichtig, dass wir verstehen, dass Demenz kein schreckliches Lebens-Ereignis ist. Für die Betroffenen und deren Angehörigen ist die Diagnose zweifellos zunächst einmal ein Schock. Viele verdrängen die ersten Anzeichen, zum Beispiel, dass sie sehr viele Dinge vergessen, sehr lange. Sie trauen sich nicht zum Arzt, weil sie Angst vor der Diagnose und der Wahrheit haben und müssen oft intensiv von der Familie oder Freunden überredet werden, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.“
DS: Wie verhalten sich Gesellschaft, Familie und Freunde im Falle einer Demenz-Diagnose denn richtig?
Michael Wessel: „Wir müssen akzeptieren, dass ein Mensch mit Demenz in einer anderen Ordnung, quasi in einer anderen Welt, lebt. Am besten ist es, wenn wir ihm in seiner Welt begegnen. Ein Beispiel: Wenn eine Betroffene oder ein Betroffener uns nicht mehr als Tochter oder Sohn erkennt und uns mit einem falschen Namen anspricht, dann sollten wir darauf eingehen, auch wenn es noch so schwer fällt. Der größte Fehler ist jedenfalls, den Betroffenen in einem solchen Fall zu korrigieren.“
DS: Was kann Kunst im Zusammenhang mit Demenz im besten Fall bewirken?
Michael Wessel: „Kunst und Kultur genießen in der Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert. Viele Leute haben großes Interesse an Kunst-Ausstellungen. Im Kopf werden Eindrücke transportiert. Auf diesem Wege kann die Gesellschaft über die Kunst auch für das Thema Demenz noch mehr sensibilisiert werden. Noch wichtiger ist der Ansatz Kunst für die Betroffenen selbst. Sie nehmen die Kamera wahr, spüren, dass sie in Szene gesetzt und fotografiert werden. Das gibt ihnen ein positives Gefühl: ‚Ich bin ja wichtig, ich stehe im Mittelpunkt‘. Da spielt es keine Rolle, dass sie eigentlich gar nicht genau mitbekommen, was eigentlich mit ihnen geschieht. Die Kunst ist für die Betroffenen viel wichtiger als für uns. Wir müssen einfach weiter denken: Man könnte doch selbst eine Foto-Aktion mit dem Betroffenen starten oder mit ihm zusammen malen und anschließend eine Ausstellung mit Bildern organisieren, die der an Demenz Erkrankte selbst gemalt hat. Solche Skizzen und Zeichnungen von Betroffenen gibt es doch schon. Keine Frage: Kunst verbindet extrem.“
DS: Wo finden Sie die Protagonisten ihrer beeindruckenden Foto-Reihe?
Michael Wessel: „Wir haben viele Einrichtungen für Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Also gibt es auch viele Protagonisten unter den Bewohnern. Wir machen auch keine Vorauswahl nach dem Motto: Wer hat das markanteste Gesicht oder die tiefsten Falten. Wir lichten jeden Betroffenen ab, für den wir das Einverständnis zum Fotografieren bekommen.“
DS: Wie handhaben Sie das sensible Thema Persönlichkeitsrecht?
Michael Wessel: „Fast alle an Demenz erkrankten Bewohner haben einen Vormund, mit diesem stimmen wir uns im Einzelfall ab und holen so die Fotografier-Genehmigung ein.“
DS: Welche Rolle spielt Weihnachten in Ihre Pflege-Einrichtungen?
Michael Wessel: „Weihnachten stellt in unserer christliche Wertevorstellung etwas ganz Besonderes dar. Das wird Ihnen unser Pflegepersonal bestätigen. Und auch für unsere Bewohner ist Weihnachten ein ganz besonderes Fest. Sie gehören ja noch zu der Generation, in der Weihnachten ein großes Gemeinschaftsfest war und sich die ganze Familie rund um den Tannenbaum versammelte. Unsere Pflegekräfte sind jetzt praktisch der Familienersatz. Das Miteinander, das Fest vorzubereiten, gemeinsam zu basteln, Plätzchen zu backen, den Christbaum zu schmücken, das erzeugt bei unseren Bewohnern eine ganz besondere Stimmung und ein Gefühl von Zuhause. Alle sind hochmotiviert. Und die typische Gerüche zu Weihnachten nehmen Menschen mit Demenz besonders intensiv wahr.“
DS: Und wie erleben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres mobilen Pflegedienstes, die ihre Patienten zuhause in ihren Wohnungen besuchen, die Weihnachtszeit?
Michael Wessel: „Unsere Pflegerinnen und Pfleger bekommen von den betreuten Menschen oft kleine Geschenke aus Dankbarkeit und Anerkennung für den guten Service und die tolle Unterstützung. Sie sind immer freundlich und zuverlässig, haben ein offenes Ohr für alle Probleme und kommen auch bei Wind und Wetter.“
DS: Welchen Stellenwert hat das Weihnachtsfest für Sie persönlich?
Michael Wessel: „Mit zunehmenden Alter einen immer größeren. Ich werde jetzt 57. Früher als Student war mir Weihnachten ziemlich egal. Da habe ich auch immer an den Feiertagen im Krankenhaus gearbeitet. Meine Einstellung hat sich im Laufe der Jahrzehnte total geändert. Ich ertappe mich oft selbst bei dem Gedanken, dass ich eigentlich noch so viel sehen, erleben oder auch nachholen möchte. Ich bin mit dem Leben noch lange nicht fertig. Aber die Zeit rast. Und deshalb ist ein solch emotionales Fest wie Weihnachten für mich mittlerweile sehr wichtig. Zumal ich drei Tage vorher auch noch Geburtstag habe. Das zusammen genieße ich sehr.“
DS: Was wünschen Sie sich persönlich zu Weihnachten?
Michael Wessel: „Die nächsten 100 Jahre gesund zu bleiben!“
Text Peter Pionke
Kunstkalender kann bestellt werden
Der Kunstkalender kann bei der Pressestelle per E-Mail über presse@pflege-wessel.de bestellt werden. Er wird zum Selbstkostenpreis von 35 Euro verkauft. Beispielsweise als aussergewöhnliches Weihnachtsgeschenk.
Ein ausführliches Portrait über die Fotografin und Künstlerin Anna Schwartz lesen Sie in Kürze an gleicher Stelle.
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