25. August 2024Peter Pionke
Michael Wessel: Würde heute keinen Pflegedienst mehr gründen
Die Branche, die rund die Hälfte aller Pflegebedürftigen in Deutschland pflegt, fühlt vom Staat und von den Krankenkassen im Stich gelassen. „Ich würde heute keinen Ambulanten Pflegedienst mehr gründen, weil das Risiko viel zu groß ist“. Klare Worte von Michael Wessel, der seit über zwei Jahrzehnten einen von 73 Pflegediensten in Wuppertal erfolgreich führt.
Claudia Weber vom ambulanten Pflegedienst Cura in Köln und Timo Brandes vom Pflegedienst Ostviertel Münster äußerten auf einer Pressekonferenz der Kampagne „Pflege am Limit“ ähnlich. „In Teilbereichen der Pflege zahlen wir inzwischen sogar drauf. Wir berechnen bei jedem Patienten, ob er sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht lohnt. Anders geht es aber leider nicht. Schlimm, was aus der Pflege geworden ist“, klagt die Unternehmerin, die ihren Betrieb am Rhein seit über 20 Jahren führt.
Nur die höchstwertige Leistung wird bezahlt
Das Sterben der vielen Pflegedienste geht selbstverständlich zu Lasten der Pflegebedürftigen, die aus wirtschaftlichen Gründen von den verbleibenden Pflegeunternehmen abgelehnt werden oder unter eingeschränkten Leistungen leiden müssen.
Ein Blick auf den in diesen Zeiten grauen Alltag der ambulanten Pflegedienste: Pro Patient, der mehrere ärztlich verordnete Leistungen bei demselben Einsatz bekommt, kann nur die höchstwertige abgerechnet werden. Alle weiteren Leistungen, die vorgeschriebener Weise erbracht werden müssen, sind unfreiwillig kostenloser Service der Pflegedienste.
2022 ist die Tarifpflicht für Pflegekräfte eingeführt worden. Seither sind die Gehälter ständig gestiegen, was unterm Strich zu 30 Prozent höheren Lohnkasten für Pflegeunternehmen geführt hat. Die Berechnungsgrundlagen sind zum Teil über 20 Jahre alt. „Wir sind früher mit einer Mischkalkulation beim Abrechnen der Leistungen gut über die Runden gekommen. Diese Rechnung geht aber heute nicht mehr auf“, Timo Brandes vom Pflegedienst Ostviertel Münster.
Das Problem: Von den rund 30 Prozent höheren Lohnkosten durch die Tarifpflicht können momentan nur bis zu 15 Prozent maximal refinanziert werden. Da klafft eine Riesen-Loch. Dabei steigt der Bedarf an ambulanter Pflege ständig. Der Markt wird also größer, dennoch wird die Luft für die ambulanten Pflegedienste durch die engen Leitplanken, die Politik und Krankenkassen setzen, immer dünner. Deshalb die Kampagne als „Wachrüttel-Aktion“.
Die Politik ist gefordert
Die Politik ist gefordert! Aber Brandbriefe an alle gesundheitlichen Sprecher in NRW und im Bund blieben ohne die erhoffte Resonanz. Dass der schriftliche „Hilferuf“ bei Bundekanzler Olaf Scholz bislang auf taube Ohren stieß, dürfte die wenigsten überraschen.
Auf Gesundheitsminister Karl Lauterbach scheint der Brandbrief zumindest ein wenig Eindruck gemacht zu haben. Immerhin soll er noch in diesem Jahr eine Pflegereform planen. „Vielleicht wäre es die beste Lösung, alles auf null zu stellen und die ganze Pflege noch einmal ganz neu zu regeln.“ Das Schlusswort von Michael Wessel.
Text Peter Pionke
Die Forderungen der Kampagne „Pflege am Limit“
Und das ist der Forderungs-Katalog an Staat und Krankenkassen, den die Mitglieder der Kampagne „Pflege am Limit“ zu Papier gebracht haben:
Deckel der Pflegegrade anheben
Die Deckelbeträge aller Pflegegrade (Die Red.: Es gibt insgesamt 5 Pflegegrade) müssen dringend um mindestens 40 Prozent angehoben werden, um Patienten weiterhin adäquat versorgen zu können. Die bisherige Anhebung ausschließlich für Pflegesachleistungen bewirkt nämlich nur eines: Pflegedienste erbringen in Summe weniger Leistungen für ihre Patienten, weil die Kostenobergrenze schneller erreicht ist. Dadurch steigt auch die Belastung der Pflegebedürftigen: Entweder sie zahlen selbst einen Teil der Pflegeleistungen, sie verzichten auf Leistungen oder werden zu Sozialhilfeempfängern. Das kann von der Politik nicht gewollt sein.
Gleichstellung beim Pflegeunterstützungs- und –entlastungsgesetz (PUEG)
Private Pflegeunternehmen werden von der Bundesregierung in Bezug auf das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) finanziell deutlich schlechter gestellt als vollstationäre Einrichtungen. Das PUEG sieht nämlich für ambulant betreute Wohngemeinschaften keine Erhöhung der Leistungszuschläge vor, wodurch diese Wohnform von der Politik klar benachteiligt wird. „Die Leistungszuschläge, die die Pflegeversicherung nach § 43c SGB XI für Pflegebedürftige ab Pflegegrad 2 in vollstationären Pflegeeinrichtungen übernimmt, werden erhöht. Die Höhe der monatlichen Zuschläge ist dabei abhängig von der Verweildauer der Pflegebedürftigen in der vollstationären Pflege.“ (Quelle Bundesgesundheitsministerium). Wir fordern eine Gleichstellung der ambulant betreuten Wohngemeinschaften mit den vollstationären Pflegeeinrichtungen und somit die Erhöhung der Leistungszuschläge in derselben Höhe.
Investitionspauschale deutlich anheben
Auch die Investitionspauschale ist in der jetzigen Höhe nicht mehr zeitgemäß. Sie ist seit mehr als 20 Jahren nicht angehoben worden und liegt noch immer bei, 2,15 Euro pro Pflegestunde für Leistungen nach SGB XI. Ein realistischer Betrag liegt bei mindestens 6,45 Euro und muss künftig dynamisch an steigende Kosten und Inflation angepasst werden.
Reform der Ausbildungsumlage
Die Politik ist ebenfalls gefordert, die Ausbildungsumlage zu reformieren. Denn auch hier liegt eine klare finanzielle Benachteiligung der ambulanten Pflegedienste vor, die sämtliche Kosten tragen. Um dies gerechter zu gestalten, sollten sich alle, die von ausgebildeten Pflegekräften profitieren, an den Kosten der Ausbildung beteiligen. Hier sind vor allem Personaldienstleister in die Pflicht zu nehmen.
Zahlungsmoral der Kassen und Sozialhilfeträger
Obwohl die Kassen einer gesetzlichen Zahlungspflicht unterliegen, halten sie diese kaum ein. Im Gegenteil: Unternehmen warten oft Monate lang auf die Erstattung der Kosten. Wir appellieren an die Politik, die Kassen anzuweisen, fristgerechte Zahlungen zu leisten. Die außenstehenden Beträge können kaum kompensiert werden und gefährden die Versorgung der Patienten, die im schlimmsten Fall nicht mehr gewährleistet werden kann.
Deckelung der Personaldienstleister
Die Gleichstellung von Tariflohn in der Pflege und den Löhnen der Personaldienstleister müssen gesetzlich verankert werden.
SCB V-Leistungen alle vergüten
Wir fordern dringend, sämtliche Leistungen, die bei ein- und demselben Einsatz und Patienten nach SGB V erbracht werden, auch zu bezahlen. Aktuell kann lediglich die höchstwertige Leistung abgerechnet werden, während alle weiteren, untergeordneten Leistungen zwar erbracht werden müssen, aber de facto unbezahlte Service-Leistungen sind.
Link zur Webseite der Kampagne „Pflege am Limit“:
Link zur Webseite von Pflege Wessel:
LESEN SIE auch das große Interview: „Michael Wessel: Ohne Hilfe geht die Pflege am Stock“
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