21. Oktober 2024

Das erste Hörspiel: Der Versuch einer Rundfunk-Groteske

Das erste europäische Hörspiel wurde am 15. Januar 1924 von der BBC ausgestrahlt. Das erste bekannte deutsche Hörspiel ging am 24. Oktober 1924 unter dem Titel „Zauberei auf dem Sender“ über den Äther.

Prof. Wolfgang Lukas, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft – © Friederike von Heyden

Autor Uwe Blass hat sich in der beliebten, spannenden Uni-Reihe „Jahr100Wissen“ mit Wolfgang Lukas, Lehrstuhl-Inhaber  für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft an der Bergischen Universität, über das erste deutsche Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ im Rundfunk unterhalten .

 Worum ging es in „Zauberei auf dem Sender“?

Wolfgang Lukas: „In ‚Zauberei auf dem Sender‘ von Hans Flesch wurden Störungen im Rundfunk inszeniert, d.h. da kamen scheinbar zufällig Personen herein, eine Märchentante wollte ein Märchen erzählen, also alles so Dinge, die eigentlich nicht für das Publikum gedacht waren, die mit Absicht als versehentlich inszeniert worden waren. Da hat man mit der Verunsicherung des Hörers gespielt, weil nie klar war, ob es nun dazugehört oder von hinter den Kulissen kam. Und das war der Trick, die Verunklarung der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Schließlich stellte sich heraus, dass das alles Machenschaften eines Zauberers waren, der im Stück (bzw. in der 1924 publizierten Textfassung – die ersten Hörspiele wurden ja noch nicht aufgezeichnet) Cagliostro genannt wird, mit Rekurs auf den berühmten Spieler und Abenteurer des 18. Jahrhunderts.

© Bergische Universität

Dieser Zauberer hatte Sendezeit gefordert, um akustische Zaubereien vorzuführen. Und da hat man ihn ausgelacht und gesagt: „Zaubereien müsse man doch sehen“! Bis dahin gab es Zaubereien ja nur fürs Auge. Um es zu beweisen, hat er dann eben diese Störungen verursacht. Das führt uns dann auch zu dem Untertitel, der da heißt: „Versuch einer Rundfunkgroteske“. Das ist ja ein bestimmtes Genre, was auch mit einer phantastischen bis komischen Realität spielt. Es gibt ja die Tradition des Dadaismus, das ist sicherlich ein Bezugspunkt (der Künstler und Maler Kurt Schwitters hat ja solche Sachen in der Zeit auch gemacht). Dann ist es auch interessant zu sehen, dass diese Tendenz zur phantastischen Realität sich fortsetzt.

Ein Jahr später kommt das Hörspiel „Spuk“ von Rolf Gunold, auch einem der ersten Hörspielautoren, heraus und noch ein Jahr danach von demselben das Hörspiel Radiobolo, der Funkdeibel. Also d.h., letzten Endes geht es um die Selbstthematisierung des Mediums, und das ist die eigentliche Botschaft. Es werden die Möglichkeiten der akustischen Illusionsbildung von Realität ausgelotet. Das kann man analog zum ganz frühen Film sehen, der nämlich in der 1890er Jahren mit den Trickfilmen und den kleinen Zauberstückchen des Georges Méliès in Frankreich, wo u.a. mit stop-motion gearbeitet wurde, genauso anfängt.“

Im Kontrollraum während einer Hörspielproduktion (1946) – © CC BY-SA 3.0 de  Foto Schwahn-Illus.

In der Kritik eine Woche später fragte der Autor: „Aber wäre es nicht möglich, mit dem Radio künstlerische Wirkungen zu erzielen, die weder das Theater, noch das Konzert, noch das Kino zu Wege bringen?“ Was ist also das Besondere am Radiohörspiel?

Wolfgang Lukas: „Das Besondere ist die Idee der rein akustischen Täuschung, also die zeichenhafte Abbildung der Realität allein mit akustischen Mitteln. Da habe ich dann nicht nur die Sprache, sondern auch die Musik und die Geräusche. Diese akustischen Wirkungen haben noch einmal einen anderen Status als das Optische/Visuelle. Da würde ich noch einmal einen Bogen schlagen zu den Bestrebungen nach einem ’unmittelbaren Leben’, die am Ende des 19. Jahrhunderts auftauchen im Kontext der sogenannten ’Lebensideologie’. Das sind Strömungen, die das gesamte Kulturleben, die Künste und die Wissenschaften sozusagen durchsetzen und wo, ausgehend von Nietzsches Kritik an der erstarrten, lebensfeindlichen bürgerlichen Zivilisation und Kultur, die Parole ausgegeben wird: ’Wir wollen das unmittelbare Leben!’.

In der Kunst führt das dann zu neuen Formen des Sprechens. Zum Beispiel im Expressionismus, wo man sich von einer herkömmlichen begrifflich-abstrakten Sprache abwendet und bildhaft wird. Ein wenig später, zeitgleich zur Erfindung des Hörspiels, gab es das berühmte Manifest von Béla Balász zum Stummfilm (Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films 1924), in dem er schreibt, dass das Tolle am Stummfilm just sei, dass man gar keine Sprache brauche, dass sie durch Gestik und Mimik ersetzt werden könne. Also zumal das nichtsprachliche Akustische ist noch einmal viel unmittelbarer.

Ein Radio der ersten Stunde – © Pixabay

In „Zauberei auf dem Sender“ ist das noch einmal sehr schön durch eine Musikeinspielung zu erkennen, die auch scheinbar ungeplant erklingt. Sicher kannte man damals schon Musik vom Grammophon, die man sich in trauter Stube anhören konnte, aber über das Radio war das offenbar etwas völlig Anderes, denn es war situationsentbunden.“

Ein Jahr später jedenfalls wurden bereits 43 Hörspielstunden eingeplant und in den 90er Jahren waren es schon knapp 2800 Stunden. Welche Themen sind denn am ehesten hörspieltauglich?

Wolfgang Lukas: „Das ist sicherlich nicht absolut beantwortbar, denn eigentlich gibt es keine strikte Koppelung zwischen Medium, Genre und einem bestimmten Inhalt. Das ist zunächst ganz offen. Klar ist, dass so größere epische Formate wie z.B. Romane sicherlich eher nicht geeignet sind. Da es mit Unmittelbarkeit verbunden wird, sind es immer wieder so kleine Momentaufnahmen. Es gibt eine signifikante Häufung von menschlichen Extremsituationen. Das geht eigentlich schon in der Literatur mit dem Inneren Monolog los. Beide Monolognovellen von Arthur Schnitzler etwa, „Lieutenant Gustl“ (1900) und „Fräulein Else“ (1924), bieten uns scheinbar unvermittelt die Gedanken von Figuren in deren letzten Stunden vor ihrem Tod.

Das erste britische Hörspiel Danger macht etwas Ähnliches. Da sind drei Menschen in einem Bergwerk verunglückt und die müssen sich auf den Tod gefasst machen. Sie werden am Ende zwar gerettet, aber das Hörspiel fängt Figuren in einer Extremsituation ein und ist ganz nah dran. Dazu findet das Hörspiel in der Fiktion im Bergwerk, also in der völligen Dunkelheit statt, d.h. das ist natürlich programmatisch, das Visuelle soll keine Rolle spielen. Die beiden ersten französischen Hörspiele aus demselben Jahr 1924 spielen auf einem in Seenot geratenen Schiff bzw. inszenieren den Monolog eines Sterbenden (Paul Camille, Marémoto und Agonie).

Pure Nostalgie – © Pixabay

Bis auf den heutigen Tag legen Hörspiele gerne den Fokus auf solche existentiellen Extremsituationen, man denke nur an die Hörspiele von Andreas Ammer, die wiederholt solche Fiktionen erfinden (Radio Inferno 1993, Apocalypse live 1994, Crashing Aeroplanes 2001, Spacemen ’85 2005).“

1931 beschwerten sich Bürger beim Sender, weil sie sich mit drei Hörspielen pro Woche überfordert fühlten und die Entspannung in der Musik suchten. Zu einem handfesten Skandal und Panik in der Bevölkerung kam es 1938 durch das Hörspiel „Krieg der Welten“ nach H.G. Wells in New York. Was war geschehen?

Wolfgang Lukas: „Die Macher des Hörspiels haben wieder mit dem Phänomen der ’Authentizität’ gespielt. Dieser Roman von Wells von 1898 beinhaltet einen Angriff der Marsmenschen auf die Erde, der nur durch Bakterien verhindert werden kann. Orson Welles schrieb mit seinem Kompagnon eine Hörspieladaption und erzielte damit seinen künstlerischen Durchbruch. Es geht darum, dass das Hörspiel, sehr viel mehr als der Film, absolute Authentizität verheißt. Außerdem muss man sagen, die Menschen waren in den 1930er Jahren zwar das Radio gewöhnt, aber es gab nicht nur Hörspiele, sondern vor allem auch Nachrichten. Das Radio war zunächst einmal das Medium für das Dokumentarische. Da wird über Reales berichtet und dann kam dieses Hörspiel und löste Panik aus.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Hörspiel noch einmal einen Boom. Woran lag das?

Wolfgang Lukas: „Dieser Boom hat sich eigentlich bis zum Beginn des Fernsehens fortgesetzt. Das hat sich dann aber erst in den 60er Jahren als neues Massenmedium durchgesetzt. In den 40er und 50er Jahren ist das Radio noch vorherrschend. Man muss aber auch sagen, das Radio wurde vor allem in Deutschland im Zweiten Weltkrieg massiv instrumentalisiert. Es war das Propagandainstrument für Joseph Göbbels, man kann ja im Haus des Rundfunks in Berlin immer noch den Raum besichtigen, wo er in der Ecke stand und dort seine Hetzreden gehalten hat. Das war sein Machtinstrument. Und nach dem Krieg war das dann anders zu erleben.“

Die schon etwas modernere Version des guten, alten Radios – © Pixabay

In den 1950er Jahren änderte sich die Machart der Hörspiele und man sprach oft auch vom „Worthörspiel“. Was war damit gemeint?

Wolfgang Lukas: „Das ist in gewisser Weise zwar neu, aber aus späterer Perspektive eigentlich das alte Hörspiel. Erst in den 60er Jahren kommt dann die neue Bewegung. In den 50 Jahren haben wir das traditionelle Hörspiel, d.h. es sind Kammerspiele, kleine Theaterstücke, die stark handlungsbetont sind, eine traditionelle Narration bringen und relativ wenig mit Musik und Geräusch arbeiten, also stark wortlastig sind.“

Den größten Skandal in der deutschen Hörspielgeschichte gab es 1969 mit Ludwig Harigs Hörspiel „Staatsbegräbnis oder Vier Lektionen politischer Gemeinschaftskunde“. Was hat der Autor gemacht?

Wolfgang Lukas: „Das ist sozusagen eines der ersten O-Ton-Hörspiele, die wohl prominenteste Ausprägung des sog. ’neuen Hörspiels’. Es setzt sich von dem alten wort- und handlungszentrierten Hörspiel der Adenauerära der 50er Jahre ab. Ende der 60er Jahre ist es dann auch technikgeschichtlich als Voraussetzung so weit, dass die Autoren selber auf die Straße gehen und O-Töne einsammeln können, es also keine reinen Studioproduktionen mehr gibt. Harig greift allerdings ausschließlich auf Dinge zurück, die im Radio gesendet wurden. Paul Wühr und auch Paul Pörtner, die in der selben Zeit arbeiteten, gingen da schon freier vor.

Harig montiert hier die offizielle Berichterstattung über das Begräbnis Adenauers. Wir erleben also am Radio in seiner Schnittfolge und Montage dieses Begräbnis. Der künstlerische Effekt ist dabei die Selektion und Montage der Texte. Er wählt Szenen aus, die auf die Verquickung von Politik und Kirche hinweisen, also der ganze katholische Kölner Kirchenklüngel wird hier akustisch evoziert.

Kardinal Frings mit seiner liturgischen Sprache, seinem Sing-Sang wird durch starke Schnitte unterbrochen und mit Texten aus einem anderen Zusammenhang kontrastiert. Durch die Montage entsteht z.T. ein semantischer Effekt der Verkehrung ins Gegenteil. Das wurde von manchen Zeitgenossen als despektierlich empfunden und es gab Sender, die das nicht ausstrahlten. Tatsächlich war es ja auch eine Art Abgesang auf eine Epoche. Diese Art von Montage jedenfalls hat dann Paul Wühr perfektioniert, und zwar mit selbst aufgenommenen Tönen.“

War vor vielen Jahren der letzte Schrei: Ein Transistor-Radio – © Pixabay

Bis heute ist Deutschland wegen seiner föderalen Rundfunkstruktur das Land, in dem die meisten Hörspiele produziert werden. Mit am erfolgreichsten ist mit über 50 Millionen verkauften Tonträgern die Serie „Die drei ???“. Welchem Genre des Hörspiels lauschen Sie denn in Ihrer Freizeit?

Wolfgang Lukas: „Ich höre in meiner Freizeit relativ regelmäßig die abendliche Hörspielreihe im Deutschlandfunk. Aktuell beschäftige ich mich mit dem O-Ton-Hörspiel der 70er Jahre, speziell mit Paul Wühr, einem Schriftsteller der experimentellen Gegenwartsliteratur, der zahlreiche Hörspiele verfasst hat und aus dessen Teilnachlass (der hier an der Universität aufbewahrt wird) ich im Rahmen einer kleinen Ausstellung beim diesjährigen Jubiläums-Hörspielfestival an der Berliner Akademie der Künste zusammen mit einer Doktorandin und einem Doktoranden einige Archivstücke zeigen kann.“

Uwe Blass

Prof. Wolfgang Luks – © Friederike von Heyden

Über Prof. Wolfgang Lukas

Wolfgang Lukas studierte Germanistik und Romanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte ebenda. Er habilitierte sich an der Universität Passau. Nach akademischen Zwischenstationen in Kiel und Zürich übernahm er 2006 den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Editionswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

 

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