19. Dezember 2024Peter Pionke
Matthias Dohmen: Erinnerungen an Tante Lenchen
Zwei Familien lebten in zwei Werkswohnungen der Paul Emil Hoesch K.-G., Papier- u. Wellpappenfabrik auf einer Etage: Die beiden Papierarbeiter Paul Frings, verheiratet mit Magdalena Frings geb. Haaß, und sein Kollege Josef Dohmen mit Frau Agathe, ebenfalls aus der Familie Haaß stammend, und dem Sohn Matthias.
Das Ehepaar Frings war äußerst sparsam, so knickerig sogar, dass sich meine Eltern bei Gelegenheit darüber echauffierten. Jeden Pfenning legten sie zurück, bis sie das Grundstück, auf dem ihr Haus entstehen sollte (und entstehen würde), bar bezahlen konnten. Mir ist auch aus späteren Jahren kein Fall bekannt, dass sie einmal in einem Gasthaus gespeist oder etwa ein Konzert besucht hätten. Der einzige Luxus, den sie sich gönnten, war der Unterhalt einer Katze, die in den Papierballen, welche die Grundlage der Pappeherstellung bildeten und hauptsächlich aus Abfallpapier bestanden, reichlich Nahrung fand.
Die Schwester meiner Mutter
Die Tante und meine Mutter waren Schwestern. Daneben gab es noch eine Tante Annchen in Bonn, eine Tante Ottilie (Otti) in Kreuzau und einen an Kriegsfolgen verstorbenen Onkel, den ich nie kennengelernt habe. Die Geschwister beziehungsweise deren Familien, soweit sie im Dürener Raum lebten, besuchten sich regelmäßig.
Tante Lenchen, der bestimmende Teil in der Ehe, so wie es meine Mutter in der Familie war, in der ich aufwuchs, und ihr Mann nahmen mich auf, als meine Eltern innerhalb weniger Monate starben (ich war keine 14 Jahre jung), und bauten in ihrem damals schon bestehenden Haus ein Zimmer an. Es war eine Art Ringtausch, denn das neue Zimmer diente dem Ehepaar als Schlafstätte, und infolge eines Umbaus des Wohnzimmers und des Einzugs einer Trennmauer erhielt ich mein eigenes Zimmer.
Wäre nicht – aber das ist eine eigene Geschichte – mein Vormund gewesen, der mich in das Erzbischöfliche Konvikt nach Münstereifel bugsierte, hätte ich auch von Birgel aus gut und gerne weiter das Stiftische Gymnasium in Düren besuchen und meine alten Freundschaften weiter pflegen können. Tante und Onkel boten mir an, mich zu adoptieren, wobei die entscheidende Initiative von der Schwester meiner Mutter kam, doch ich wollte meinen Nachnamen nicht verlieren, so ging mir das durch den Kopf.
50 Pfennig für die Pommesbude
Das Mädchen, in das ich mich als erstes verliebte, hieß Hildegard. Die „Affäre“ währte nur kurz und litt hauptsächlich unter meiner Zurückhaltung, die eine Folge meiner sehr konservativ-katholischen und verquasten Sexualerziehung war. Ob die Mutter der von mir Angebeteten überhaupt davon wusste, bezweifle ich.
Desungeachtet war ich ihr nicht unbekannt, da ich in eine Klasse mit ihrer Tochter ging und in der Volksschule sowie den ersten Klassen des altsprachlichen Gymnasiums durch gute Leistungen auffiel. Jedenfalls traf mich Hildegards Mutter vor einer der damals noch seltenen Pommesbuden und drückte mir ein Fünfzig-Pfenning-Stück, es kann auch eine D-Mark gewesen sein, in die Hand. Das muss irgendwann Ende der 1950er-Jahre gewesen sein.
Als ich der Tante von der Dotation erzählte, wurde sie fuchsteufelswild und erklärte mir, dass wir das nicht nötig hätten, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr die schätzungsweise vier Kilometer zu Hildegards Mutter, um ihr das Geldstück zurückzugeben.
Tante Lenchen hatte in ihrer Jugend und als junge Frau zur Anstellung gearbeitet, eine Zeit lang bei einem Metzger, wo sie für den Haushalt und die Kinder verantwortlich war und auch in der Fleischerei aushalf. Aus der Zeit wohl stammte ihre Redewendung, grober Leberwurst sei der Vorzug gegenüber der feineren zu geben, weil in der zweitgenannten allerlei Nichtfleischliches bis hin zu Putzlumpen enthalten sein könne. Sie war unpolitisch, erinnerte sich aber, dass die Juden in ihrer Gemeinde Zug um Zug einem, wie sie auch wohl damals schon vermutete, grausamen Schicksal übereignet wurden.
Politisch war man gebranntes Kind: Der Mann, Paul, war eine Art Betriebsobmann in der Nazizeit und erinnerte bisweilen daran, dass der Betriebsinhaber ihn zum Vorarbeiter befördern wollte, wie er im Dritten Reich versprach, seine Zusage aber nie einlöste.
Der Onkel hatte mich in dem bösen Verdacht, radikaler zu sein („Das muss doch mehr dahinterstecken“) als ein Freund von ihm vier Häuser weiter, der sich zur SPD bekannte, aber regelmäßig zur heiligen Messe ging. Als der Mann gestorben war und ich in den Ferien in Birgel lebte, fuhr ich meine Tante aus Tarnungsgründen sonntags zur Kirche in die Stadt – sie ging in die Messe, und ich wartete im Auto, einem kleinen NSU-Fiat, das ich damals besaß.
Die Tante hat wohl ihr Lebtag darunter gelitten, dass sie kein Kind hatte oder vielleicht auch nicht bekommen konnte. Mich hat sie heiß und innig geliebt, und die ersten Monate, die ich im Internat war, wechselten wir mehrfach in der Woche Briefe, von denen nur noch wenige existieren. Meine Fixierung auf diesen Postaustausch ließ schlagartig nach, als ich mich in Münstereifel, ebenfalls unglücklich, in die Schwester eines langjährigen Freundes verliebte.
Leidenschaftliche Blumenzüchterin
Nun ruht die Schwester meiner Mutter auf dem Alten Friedhof in Düren-Rölsdorf – noch ein paar Jahre, dann läuft auch die Verlängerung des „eigenen“ Grabes ab. Ihr verdanke ich, das Haus in Birgel geerbt zu haben, denn wäre meine Tante vor meinem Onkel gestorben, hätte er, dessen bin ich sicher, Häuschen und Grundstück meinem Vetter vermacht, den er mir gegenüber deutlich vorzog.
Tante Lenchen war ein leidenschaftliche Blumenzüchterin, liebte ihre Hühner, von denen sie eines regelmäßig auf den Arm nahm, hat die letzten Jahre ihres Lebens in einem Seniorenheim verbracht, an das ich sehr gute Erinnerungen habe, und hatte ein, alles in allem, entbehrungsreiches und arbeitsames Leben, war freundlich zu allen, rechtschaffen und sparsam.
Dr. Matthias Dohmen
Weiter mit:
Kommentare
Neuen Kommentar verfassen