16. Januar 2025Peter Pionke
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit
Ernesto Cardenal war ein katholischer Priester, sozialistischer Politiker und Dichter. In welchem Zusammenhang sind Sie auf ihn zum ersten Mal aufmerksam geworden?
Matei Chihaia: „Nach meiner Habilitation hatte ich ein größeres Forschungsprojekt über Ruinendichtung begonnen, das sich dann immer mehr auf die Idee der „Stunde Null“ und des „Nullpunkts“ zuspitzte – diese Begriffe sind heutzutage nicht mehr sehr geläufig, aber in der Generation meiner Eltern spielten sie eine wichtige Rolle: Es ging um den historischen Einschnitt, den das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete, und die Frage, wie die Literatur und Kultur mit den buchstäblichen und symbolischen Trümmern umgehen konnte, die die Nazizeit hinterlassen hatte. Dieses Modell, um Geschichte zu denken, lässt sich auf viele, auch aktuelle Situationen anwenden. Jedenfalls war diese Forschung zunächst ganz auf Europa zentriert, bis ich auf einer Tagung einen peruanischen Autor traf, Félix Terrones, der inzwischen an der Universität Bern lehrt, und der mir erzählte, dass der Begriff auch in der lateinamerikanischen Lyrik ganz zentral ist. Und das verdankt sie einem langen Gedicht von Cardenal, das den Titel „Hora cero“, eben „Stunde Null“, trägt. Es beginnt so: „Tropische mittelamerikanische Nächte, mit Lagunen und Vulkanen unter dem Mond und Lichtern von Präsidentenpalästen, Kasernen und traurigen Ausgangssperren.“ Dieses starke Bild ist geradezu ikonisch geworden für die Probleme der mittelamerikanischen Staaten, und es spricht darüber aus Distanz und Nähe zugleich, wie typisch für Cardenal.“
Schon in jungen Jahren schloss er sich der oppositionellen Jugendbewegung UNAP an und kämpfte – auch literarisch – gegen den diktatorisch regierenden Präsidenten Anastasio Somoza García. Das hätte er beinahe mit dem Leben bezahlt. Was war passiert?
Matei Chihaia: „Das Gedicht ist ein kleines Epos, in dem die Ursprünge und Hintergründe der Somoza-Diktatur geschildert werden. Denn der Somoza, der zu Cardenals Zeiten in Nicaragua regierte, war der Sohn des ersten Somoza, der die Familienherrschaft über das Land in den 1930er Jahren begründete, Anastasio, den wir Anastasio den Ersten nennen können. Ihm folgte dann sein Sohn Luis als Präsident, und nach dessen Tod übernahm Anastasio, also Anastasio der Zweite, den Sitz im Palast. Es ist eine Geschichte, die sich so ähnlich in vielen Ländern Lateinamerikas und der Welt – man denke an Nordkorea! – zugetragen hat und die daran erinnern sollte, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Cardenal, der in Mexiko-Stadt, in New York und in Kolumbien Literatur und Theologie studiert hatte, kehrte Anfang der 1950er Jahre nach Managua zurück – ein junger Mann der Oberschicht, ausgebildet an den besten Universitäten und mit 29 Jahren schon ein Intellektueller, der die Welt verändern wollte, angefangen mit dem eigenen Land.
Er schloss sich also einer Oppositionsbewegung an und sympathisierte 1954 mit einem Putschversuch, der von einigen Offizieren der Nationalgarde ausging und kläglich scheiterte. Cardenal entkam irgendwie der blutigen Vergeltung des Regimes, musste aber ins Exil gehen: er wurde Novize in einem Trappistenkloster in Kentucky, wo er seine geistliche und dichterische Ausbildung fortsetzte.
„Hora cero“, ein relativ frühes Werk, schaut zurück auf das Scheitern und setzt es in Zusammenhang mit dem historischen Kampf von Augusto César Sandino gegen den ersten Anastasio Somoza, und auf die Rolle der United Fruit Company und anderer ausländischer Unternehmen in der Politik Nicaraguas. Insgesamt bietet das Gedicht einen poetisch gestalteten Überblick über die Geschichte des Landes. Gewissermaßen ein Versuch, mit den Mitteln der Lyrik daran zu erinnern, dass es existiert.“
Mit Mitte 30 begann er ein Theologiestudium und wurde 1965 in Managua zum Priester geweiht. Literarisch schrieb er in dieser Zeit die Psalmen (Salmos, 1969), die als Ausdruck der Befreiungstheologie gelten. Er hat sich zeitlebens immer auch in politische Fragen eingemischt, oder?
Matei Chihaia: „Die Psalmen Cardenals sind eines der ganz großen Werke der lateinamerikanischen Lyrik, denke ich. Sie entspringen aus der eigenen Exilsituation, die er historisch wieder in die Vergangenheit projiziert – diesmal nicht in die 1930er Jahre, so wie bei „Hora cero“, sondern gleich in die Zeit des Volkes Israel. Dass er sich zum Priester weihen ließ, war einerseits das Ziel eines eigenen Bildungsromans, also ein Bildungsideal, das er selbst entworfen hatte, und in dem das Gespräch mit den Menschen, mit der Natur und mit Gott möglich sein sollte. Andererseits war es in der Zeit des Kalten Krieges auch eine Form, sich vor Verfolgung zu schützen. Es gab entsprechende Organisationen der internationalen Solidarität, so die Ostpriesterhilfe bzw. Kirche in Not, wo ich als Jugendlicher selbst engagiert war, und seit den 1960er Jahren wuchs das Bewusstsein dafür, dass auch die Geistlichen in Lateinamerika, die für soziale Gerechtigkeit kämpften, unterdrückt und bedroht werden.“
Sein in Deutschland bekanntestes Buch „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ schrieb er in der gleichnamigen Kommune. Wie kam es dazu?
Matei Chihaia: „Solentiname ist der Name einer Inselgruppe im riesigen Nicaraguasee. Cardenal und eine Gruppe von Freunden zogen nach seiner Priesterweihe dorthin, um gemeinsam mit den ansässigen Fischern das Ideal einer urchristlichen Gemeinschaft zu verwirklichen. Nicaragua ist ja ein Land der großen Unterschiede: auf der einen Seite die Städte am Pazifik mit der gebildeten Oberschicht, auf der anderen die ländlichen Gegenden und die Karibikküste, die vom Staat traditionell vernachlässigt wurden und wo die Menschen unter sehr ärmlichen Verhältnissen leben. Gerade diese Lebensform bietet aber Anknüpfungspunkte an das Evangelium, wo auch vom einfachen Leben die Rede ist: Petrus ist ein Fischer, wie die Bewohner des Solentiname-Archipels. „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ hält die Gespräche fest, die in dieser Gemeinschaft über verschiedene Texte der Evangelien stattfinden, und in denen diese Menschen die Botschaft Christi mit ihrem Leben in Verbindung bringen. Cardenal ermutigt die Gemeindemitglieder auch, die Evangelien bildlich mit ihrer Lebenswelt zu verknüpfen, und so entstehen diese bezaubernden naiven Gemälde, in denen die Heilsgeschichte aus der Wüste Palästinas in eine tropisch farbenfrohe Umgebung verlagert wird.“
Diese Kommune endete 1977 dramatisch. Warum?
Matei Chihaia: „Cardenal hatte in den 1970er Jahren Kuba besucht, wo eine Gruppe versprengter Guerilleros unter Fidel Castro aus einer ländlichen Gegend – der Sierra Maestra – heraus einen breiten Volksaufstand „von unten“ und letztlich den Sturz des lokalen Diktators bewirkt hatte. Dieser Mythos der Sierra Maestra, an dem unter anderem auch Che Guevara mitgestrickt hatte, inspirierte auch die Nachbarn in Mittelamerika. Konnte das Solentiname-Archipel der Ausgangspunkt einer nicaraguanischen Revolution nach kubanischem Vorbild werden? Cardenal stand der Sandinistischen Befreiungsfront Nicaraguas nahe, er vertrat die Idee einer christlichen Revolution, und in seiner Gemeinschaft gab es viele, die mit Waffengewalt den Umsturz herbeiführen wollten. Als diese eine Kaserne der Nationalgarde besetzten, endete die Toleranz des Regimes: die Einrichtungen von Solentiname wurden zerstört, und Cardenal musste wieder ins Exil.“
1978/79 fand die Nicaraguanische Revolution statt, Cardenal kehrte nach Nicaragua zurück und übernahm für knapp acht Jahre das Amt des Kulturministers. Was hat er in dieser Zeit erreicht?
Matei Chihaia: „Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten, weil ich einige Menschen kenne, die mit ihm eng zusammengearbeitet haben und viel besser darüber Auskunft geben könnten: in erster Linie Lutz Kliche, der seine Gedichte übersetzt hatte und mit ihm nach Nicaragua ging, um ihm im Ministerium zur Seite zu stehen. Diese Kulturarbeit war international sichtbar: Verlage und Bibliotheken wurden gegründet, es gab Festivals und Ausstellungen. Hand in Hand ging sie mit einer Alphabetisierungskampagne, die von der UNESCO ausgezeichnet wurde, und im Rahmen derer etwa 400.000 Nicaraguaner Lesen und Schreiben lernten. Leider hat sich die Situation seitdem wieder verschlechtert, wie der damalige Erziehungsminister Carlos Tünnermann beklagt: 1980 gab es 13% Personen über 15 Jahren, die nicht lesen und schreiben konnten, 2008 war es schon über ein Viertel dieser Bevölkerungsgruppe.
Das Engagement für die Kultur in seiner Ministerzeit lässt sich übrigens schon an den Briefmarken ablesen: 1983 wurde eine wunderschöne Serie mit lateinamerikanischen Dichtern gedruckt, darunter auch der von Cardenal bewunderte Pablo Neruda, aber auch viele Nicaraguaner wie der große Rubén Darío, deren Porträts vor ihren Handschriften erscheinen. Eine doppelte Würdigung der Schriftkultur also. Der zu „Orden de la independencia cultural Rubén Darío“ umbenannte Staatspreis ging im gleichen Jahr an Julio Cortázar, den argentinischen Erzähler, der Cardenal in Solentiname besucht und dann über die Zerstörung der Inselgemeinschaft 1977 eine vielbeachtete Erzählung geschrieben hatte, „Apocalipsis de Solentiname“. Diese Autoren glaubten jedenfalls daran, dass die Kultur das letzte Wort behalten kann.“
Der Katholischen Kirche gefiel Cardenals politischer Einsatz sowie seine Nähe zur Befreiungskirche überhaupt nicht und Papst Johannes Paul II. suspendierte ihn als Priester sogar. Doch Cardenal gab seine Haltung nicht auf, oder?
Matei Chihaia: „Ja, Johannes Paul II. und Cardenal hatten vieles gemeinsam: beide waren sie Dichter und Priester zugleich, beide glaubten an die Möglichkeit, mystische Religiosität und politisches Engagement zu verbinden, beide kamen aus kleinen Staaten, deren Souveränität permanent in Frage stand, und beide hatten ein enormes Charisma. Tragischerweise gehörten sie zu gegnerischen Parteien des Kalten Krieges. Für die Suspendierung gab es formale Gründe – ein Priester konnte nicht gleichzeitig auch Minister sein – aber im Hintergrund stand die Tatsache, dass die katholische Kirche alles andere als neutral war. Und Johannes Paul II. war eng mit der politischen Opposition in Polen verbunden, wo Geistliche verfolgt und ermordet wurden, die Vorstellung, dass die Kirche an der Regierung eines sozialistischen Staates beteiligt war, musste für ihn unerträglich sein. Im lateinamerikanischen Kontext wurde Cardenal hingegen gefeiert für sein Engagement, eben auch im Kontrast zu der problematischen Rolle, die ein Großteil der katholischen Kirche in den südamerikanischen Diktaturen gespielt hatte und in den 1980er Jahren weiterhin spielte. Auch aus Deutschland gab es Unterstützung für seine Haltung: als der Dichter-Priester 1980 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, hält der bedeutende Theologe Johann Baptist Metz die Laudatio.“
2017 verlieh ihm die Bergische Universität die Ehrendoktorwürde. Sie selber waren bei der Veranstaltung zugegen. Wie haben Sie Ernesto Cardenal erlebt?
Matei Chihaia: „Ich habe mich nur wenig mit ihm unterhalten, weil ich auf die Organisation der Veranstaltung konzentriert war – im Vordergrund standen für mich solche Details wie die schwächelnden Batterien im drahtlosen Mikrophon, die telefonische Durchsage an die dpa, dass er die Ehrendoktorwürde nun auch tatsächlich erhalten hat, und die Vermittlung von Interviews mit dem Dichter. Aber es war berührend zu sehen, wie viele Menschen kamen, die ihn schon ein Leben lang kannten, und wie viel Freundschaft und Achtung für alle von ihm ausging. Man merkte auch, wie er sich in Wuppertal zu Hause fühlte, er hatte hier seine Lieblingsorte und Gewohnheiten. Die Auszeichnung durch die Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften kam in einem schwierigen Moment in seinem Leben, als er in Nicaragua offen gegen die Diktatur des ehemaligen Befreiers Daniel Ortega Stellung genommen hatte und allerlei Repressalien ausgesetzt war. Zur Zeit der Ehrenpromotion wirkte es so, als würde er noch ein weiteres Mal ins Exil gehen müssen, das gab der Veranstaltung eine besondere Bedeutung.“
Seine Werke in Deutschland wurden vor allem vom Peter Hammer Verlag in Wuppertal herausgegeben. Wie kam der Kontakt zustande?
Matei Chihaia: „Das sollte nun wirklich Hermann Schulz erzählen, der ehemalige Verlagsleiter, der Cardenal in Lateinamerika kennen lernte, als er noch nicht so bekannt war, und Wuppertal letztendlich zum Zentrum der europäischen Solidaritätsbewegung mit Nicaragua machte. Der Peter Hammer Verlag spielt eine wichtige Rolle für den weltweiten Boom lateinamerikanischer Literatur in den 1970er Jahren, zusammen mit Suhrkamp in Frankfurt, Seix Barral in Barcelona und Gallimard und Seuil in Paris.“
Er gilt als einer der bedeutendsten Dichter Nicaraguas. Was schätzen Literaturliebhaberinnen und -Liebhauer an seinem Werk?
Matei Chihaia: „Ich denke, lyrische Gedichte können Beziehungen und Verknüpfungen herstellen, und auf diese Weise Sinn stiften. Sie können beruhigend wirken oder unerwartet, oft eröffnen sie neue Perspektiven auf Vertrautes. Das ist etwa der Fall von den Reiseeindrücken Cardenals aus Deutschland, die in „Heimweh nach dem Paradies“, dem Band des Peter-Hammer-Verlags zu finden sind, den Lutz Kliche und Hermann Schulz jetzt herausgegeben haben: „Im Haus eines westfälischen Bauern / feine Gardinen vor den Fenstern, / Bilder, Blumenvasen, moderne Lampen. / »Warum sind die Bauern in Nicaragua so arm?« / fragt er mich.“ Zusammen mit Karla Domínguez und Enrique Delgadillo, zwei jungen Kulturschaffenden, die in Nicaragua geboren sind und in Deutschland leben, planen wir im November 2025 eine Woche mit Aktivitäten, die das Fortleben von Cardenals Werk sichtbar machen sollen. Domínguez, die Musikerin ist, hat Gedichte von ihm für ein Konzert in der Immanuelskirche vertont, und Delgadillo, selbst Autor und Verleger, wird eine Werkstatt zu kreativem Schreiben anbieten, in Anschluss an eine Serie von Seminaren für Masterstudierende der Bergischen Universität, die schon begonnen hat.“
Uwe Blass
Über Prof. Dr. Matei Chihaia
Prof. Dr. Matei Chihaia studierte Komparatistik, Romanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der University of Oxford. Seit 2010 lehrt er Französische und Spanische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität.
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