17. Januar 2025

Helge Lindh steigt als „Titelverteidiger“ in den Ring

Er hat nicht nur einen Koffer in Berlin, sondern auch ein Büro und einen Platz im Bundestag. Seit gut sieben Jahren ist Helge Lindh MdB - und das möchte der Wuppertaler SPD-Politiker auch gerne bleiben. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar 2025 tritt er im Wahlkreis Wuppertal I gegen den Ex-Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang an, der für die Wuppertaler CDU in den Ring steigt.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh (48) kämpft im Wahlkreis Wuppertal I um seine Wiederwahl – © Photothek

Bei der Wahl 2021 hatte Helge Lindh (48) seinen Wahlkreis mit 37,3 Prozent der Stimmen gegen die CDU-Kandidatin Caroline Lünenschloss (22 %) klar gewonnen. Der SPD-Politiker ist in der aktuellen Legislaturperiode Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat sowie im Ausschuss für Kultur und Medien.

Mit Thomas Haldenwang (64) bekommt Helge Lindh jetzt einen prominenten Herausforderer. Der Ex-Verfassungsschützer kam allerdings alles andere als geräuschlos an seine Kandidatur. Zunächst war nämlich Derya Altunok (34), stellv. CDU-Kreisverbandsvorsitzende und Chefin der Frauen-Union Wuppertal, als Bundestagskandidatin auserkoren worden.

Doch dann plötzlich tauchte Thomas Haldenwang auf der Wuppertaler Polit-Bühne auf. Am Ende stand – begleitet von schrillen Misstönen – eine Kampfabstimmung zwischen Thomas Haldenwang und Derya Altunok. Diese endete 82:32 für den erfahrenen Spitzenbeamten. Für die mächtigen Köpfe in der Wuppertaler CDU ist Haldenwang ein großer Hoffnungsträger.

Kontrahent Helge Lindh wird das vermutlich anders sehen. Die Entscheidung liegt jetzt bei den Wählerinnen und Wählern, denen wir der Reihe nach die Wuppertaler Bundestagskandidaten vorstellen.

Erster Interviewpartner ist Helge Lindh. Mit ihm haben wir uns über das Ende der Ampel-Koalition, den laufenden Wahlkampf und über seine Pläne und Ziele unterhalten.

Helge Lindh (r.) mit Andrij Melnyk, ehemaliger ukrainischer Botschafter in Deutschland – © Büro MdB Lindh

DS: Wie fit fühlen Sie sich für die heiße Wahlkampfphase?

Helge Lindh: „Ich fühle mich absolut fit, voller Leidenschaft und Begeisterung für meine Aufgabe, die ich liebe. Und zugleich voller Ernsthaftigkeit, denn die Lage der Demokratie in Deutschland und weltweit sowie die Fülle von Krisen und Sorgen, mit der Bürgerinnen und Bürger sich herumschlagen, gebieten Ernst und Demut. Vor allem aber gilt: Das Leben der Menschen hält nicht inne, weil wir ein paar Wochen „Wahlkampf“ zu zelebrieren meinen. Heiße Wahlkampfphase ist für mich jeder Tag als Abgeordneter. Gegenstand dieses täglichen Wahlkampfes ist und bleibt harte, hingebungsvolle Arbeit. Das bin ich den Menschen schuldig. Ich will und werde ihnen keinen Helge Lindh versprechen oder darstellen, der nicht der Helge Lindh der täglichen politischen Wahlkreisarbeit ist.“

DS: Kurz, aber heftig – oder hätten Sie sich lieber einen längeren Wahlkampf als rund 50 Tage gewünscht?

Helge Lindh: „Kurz und heftig oder lang und lau – mir steht nicht zu, über die jeweiligen Konditionen eines Wahlkampfes zu lamentieren. Die intensive öffentliche Phase mit Plakatierung und Podien beispielweise ist ja immer mit gewissen Variationen ähnlich lang, Vorlauf, Vorbereitung und alles Drumherum sind allerdings dieses Mal viel verdichteter, kürzer und besonders. Die Gründe, warum es so kam, sind allen bekannt. Viel mehr Bewusstsein, dass eine Koalition eine Koalition ist, in der man zusammenzuarbeiten hat, eine Verantwortungsgemeinschaft, in der nicht die eigene Profilierung auf Kosten der anderen leitendes Prinzip ist, hätte dafür gesorgt, dass die Regierung die Legislatur regulär beendet hätte. Dieses Gegeneinander und die mangelnde Bereitschaft, Entscheidungen auch gemeinsam zu vertreten, sind ein Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, über die ich mich immer noch aufrege. Angesichts dessen habe ich erst recht nicht mir Zeitpunkt und Länge eines Wahlkampfes zu wünschen.“

DS: Wie groß ist Ihre Sorge, dass es ein knochenharter, sogar schmutziger Wahlkampf wird?

Helge Lindh: „Das tagtägliche politische Geschäft ist aufgrund anderer Kommunikationspraktiken, des Siegeszuges des Populismus, der Tendenz zur Polarisierung und der Bedeutung von digitalen Plattformen in den letzten Jahren ohnehin knochenhart und sehr häufig schmutzig. Harter Streit, Polemik, Debattenlust sind notwendig und machen die Lebendigkeit einer Demokratie aus. Ich pflege dies bekanntlich auch im Deutschen Bundestag. Aber leider sind persönliche Anfeindungen, Enthemmungen und Beleidigungen zunehmend zur Gewohnheit geworden. Als neue falsche Normalität greifen einerseits Hassrede und dumpfe Wut, andererseits die Unlust, zu argumentieren und die Argumente wie auch Meinungen anderer auszuhalten, um sich. Das hängt neben der inhaltlichen Dimension auch damit zusammen, dass wir allzu lange im politischen Diskurs die emotionale Dimension vernachlässigt und übersehen haben, dass Menschen auch emotionale Wesen sind, die Empathie und Beachtung brauchen. Dieses Vakuum ist dann in Formen brutaler Hyperemotionalisierung umgeschlagen. Zudem hat der Versuch von strategischer Wahlbeeinflussung aus dem Ausland nachweislich deutlich zugenommen. In Anbetracht derartiger Entwicklungen im politischen Alltag und in Anbetracht der Wahlkämpfe der letzten Jahre auch außerhalb Deutschlands, nimmt es nicht wunder, wenn auch dieser Wahlkampf womöglich schmutzig und roh wird.“

Gut behütet: Des SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh – © Christoph Busse

DS: Welchen Anteil an dieser Entwicklung haben die etablierten Parteien der Mitte?

Helge Lindh: „Das entbindet uns im Übrigen nicht von der unangenehmen, unbequemen Frage, inwiefern die uns berechtigterweise mehr oder weniger erschütternde Erfolgsstory des populistischen Kults der Stärke von Trump & Co. auch mit unserer eigenen Schwäche zusammenhängt. Allerdings sind die Wirkungen des Aggregatzustandes „Wahlkampf“ schillernd und in verschiedenen Richtungen eigentümlich. So erleben wir doch gerade wundersame Wandlungen und Teilwandlungen. Kanzlerkandidaten geben sich plötzlich völlig oder wenigstens teilweise deutlich anders als im Normalbetrieb oder wechseln chamäleonhaft je nach Publikum und Wetterlage das Profil. Über Knochenhärte sollten wir in der Politik uns jedenfalls nicht beschweren. Es gibt so viele Leute, die echt knochenharte Jobs und knochenharte Arbeitsbedingungen ertragen müssen und sich antun. Da sind wir immer noch sehr privilegiert.“

DS: Von der großen Aufholjagd, von der Olaf Scholz immer gesprochen hat, ist bislang rein gar nichts zu spüren. Wie hoch schätzen Sie als MdB und Wahlkämpfer die Chance noch ein, dass Ihr Parteifreund doch noch Bundeskanzler bleibt?

Helge Lindh: „Wahlprognosen sind – wir alle waren live dabei – zunehmend unsicher geworden, Wahlentscheidungen werden oft recht kurzfristig gefällt, bei verschiedenen Wahlen kam es in wenigen Wochen zu außerordentlicher Dynamik. Ich werde keine Schätzungen vornehmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Olaf Scholz Kanzler bleibt. Er hat selbst entschieden, dass er unbedingt weitermachen will und stellt sich aus dieser tiefen Überzeugung heraus dem Votum der Bevölkerung. Aus nicht minder großer Überzeugung konzentriere ich mich komplett auf meine Stadt und meinen Wahlkreis. Zeit, die ich mit Spekulationen über Wahlchancen und Aussichten auf die Kanzlerschaft verbringe, fehlt mir für die praktische Arbeit.“

Helge Lindh (l.) bei einer Karnevalsveranstaltung mit Lore Duwe, Heiner Fragemann und Dr. Stefan Kühn – © privat

DS: Heutzutage als Politiker unterwegs zu sein, ist ja nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Man ist Anfeindungen und Beleidigungen ausgesetzt wie noch nie. Sie selbst erhielten vor kurzem einen Drohbrief. Haben Sie ein Rezept, so etwas mental wegzustecken und Ihren eingeschlagenen Weg unbeirrt weiter zu gehen?

Helge Lindh: „Ich möchte niemandem besserwisserisch Ratschläge erteilen, wie mit solchen Drohszenarien umzugehen sei. Das wäre anmaßend. Daher möchte ich auch nicht von einem Rezept sprechen. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Personen des öffentlichen Lebens oder auch ehrenamtlich Aktive derartige Hassstürme und Beschimpfungen nicht mehr ertragen, aufgeben, sich zurückziehen. Leider ein schrecklicher Erfolg der Einschüchterer. Ich persönlich habe Techniken entwickelt, die dauernden Anfeindungen, Herabwürdigungen und Beleidigungen bis hin zu Bedrohungen nicht zu sehr an mich heranzulassen und den Hass in Ansporn und Motivation zu verwandeln. Ich schenke den Hatern und Extremisten nicht meine Angst, nicht mein Schweigen. Aufgeben ist keine Option. Ganz bewusst gehe ich offensiv damit um, was neben den Sicherheitsbehörden auch eine Form von Schutz durch Öffentlichkeit darstellt. Ich bleibe klar und laut. Trotzdem läuft die Angst immer wieder mit und taucht unwillkürlich auf. Wenn ich etwa durch die Stadt laufe und plötzlich der Gedanke auftaucht, jemand könnte ernst machen mit dem Hass. Wenn ich daran denke, wie ich letztlich durch meine Arbeit meine Mitarbeitenden Gefahren aussetze. Wenn in Momenten der Ruhe und Stille ohne Vorwarnung diese unvorstellbar widerlichen Textfetzen und Bilder aufflackern.“

DS: Sie als Art „Platzhirsch“ bekommen mit Ex-Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang einen prominenten Herausforderer, wie gehen Sie damit um?

Helge Lindh: „Die Parteispitze der Union hatte zunächst eine junge Kandidatin, Frau Altunok, zur designierten Kandidatin erklärt, dann mit einem Male Herrn Haldenwang, mittlerweile im Ruhestand als vormaliger Präsident des Verfassungsschutzes, als Kandidaten verkündet, die Kandidatin nahm sich aus dem Rennen bzw. wurde aus dem Rennen genommen, sie trat dann doch an, letztlich wurde er nominiert. Mit dieser ganzen Kandidatur und den etwaigen Intentionen dahinter kann sich die CDU beschäftigen und auch die Öffentlichkeit, was ja auch bundesweit geschehen ist. Meine Aufgabe ist das nicht. Ich mache meine Arbeit nicht von den Kandidaturen und Kalkülen anderer abhängig. Die Stadt Wuppertal und ich – wir gehören zusammen. Das passt einfach. Gesucht und gefunden. Ich trete nicht gegen jemanden, sondern für etwas an.“

Helge Lindh bei der Vorstellung des temporären Kunstwerks „Google Tree“ am Haspel – © Ralf Silberkuhl

DS: Sie sind seit fast acht Jahren Bundestagsabgeordneter und damit schon ein erfahrener Polit-Profi. Haldenwang ist dagegen eher ein Späteinsteiger. Wie wollen Sie diesen Vorteil nutzen?

Helge Lindh: „Politik, auch wenn sie oft so inszeniert und verstanden wird, ist kein Spiel, sie ist kein Lieferdienst, sie ist letztlich auch keine Casting-Show, ohne damit Casting-Shows verurteilen zu wollen, im Gegenteil. Viele Menschen lieben sie – aus guten und sehr respektablen Gründen. Bundestagsdebatten und Polit-Talks üben im Vergleich dazu aktuell weniger Anziehungskraft aus. Abgeordnetenarbeit ist jedoch etwas völlig anderes und sollte es auch sein. Die Tätigkeit eines Abgeordneten ist aus meiner Sicht eine ganz besondere, sie steht und fällt mit den Hingabe für den Wahlkreis. Erfahrung ist kein Selbstzweck, sondern erwachsen aus jahrelangem Einsatz vor Ort zuhause und in Verhandlungsrunden, Gremien, Netzwerken, dem Plenum und Ausschüssen in Berlin. Meine Pflicht ist, an beiden Ort mein Bestes zu geben und zu schauen, dass auch diese beiden Welten sich befruchten. Die Vorteile, die aus der Praxis im Umgang mit Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit einerseits und aus der Einübung in die Entwicklung und Prüfung von Gesetzestexten, Anträgen, Förderprogrammen andererseits erwachsen, gilt es dafür zu nutzen, dass eine Art Schnellspur, im übertragenen Sinne so etwas wie der Beaming-Teleporter bei Star Trek, zwischen Wuppertal und Berlin besteht, und damit dann, mit dem Know-how und den aufgebauten Strukturen, der bestmögliche Bundestagsabgeordnete für die eigene Stadt zu sein.“

DS: Sie gelten in Wuppertal als Kümmerer, sind in der Gesellschaft breit vernetzt, engagieren sich sozial und kulturell, sind oft vor Ort, verbringen die Heiligabende regelmäßig in der Historischen Stadthalle bei der Weihnachtsfeier der Einsamen und Bedürftigen. Welche Rolle spielt für Sie als MdB die häufige Präsenz im Heimat-Wahlkreis?

Helge Lindh: „Bürgernähe und Präsenz sind für mich die Essenz meiner Arbeit. Dafür bin ich da, Wuppertal habe ich zu dienen. Punkt. Nähe ist unverzichtbar und macht mein Tun aus. Und das ist auch kein Frondienst, sondern ein wahres Privileg, ein Geschenk. Wer hat schon die Möglichkeit, das zu tun, war er oder sie liebt, und dabei so viele Leute in ganz unterschiedlichen Lebenswelten, Arbeitsbereichen, Schichten kennenzulernen. Das ist eine unfassbare Bereicherung. Über Politik heiß es ja oft „die da oben“. Leider haben wir zu dem Bild auch teilweise stark beigetragen. Die Ironie ist: Der Beruf ist, wie ich ihn jedenfalls auffasse, die Möglichkeit, Menschen in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit begegnen zu dürfen, Einblick in das Streben so vieler nach ihrem Glück zu gewinnen und
zu versuchen, dabei zu unterstützen und Hindernisse abzubauen.“

Helge Lindh (M.) Yevgen und Irina Besedin (v.r.) – Gründer des Charity-Vereins „Stand with UA“  – und ukrainischen Flüchtlingen – © Stand with UA

DS: Gibt es überhaupt so etwas wie Glücksgefühle in der Politik?

Helge Lindh: „Ein Verhandlungserfolg bei einem Gesetzgebungsverfahren ist eine tolle Erfahrung und auch nicht zu unterschätzen, absolute Professionalität ist gefordert, zumal Gesetze und Regularien maßgeblich die Arbeits- und Lebenswirklichkeit beeinflussen. Doch noch viel erfüllender und beglückender ist es, konkret geholfen zu haben oder ein lokales Projekt mit auf den Weg bringen und anschieben bzw. absichern zu können oder für Wuppertal ein Vorhaben, sei es riesig oder auch klein, mittels der Kapazitäten im Bundestag möglich zu machen. Wir sollten unsere Wichtigkeit als Politiker nicht überschätzen, dennoch müssen wir uns klarmachen: Unsere Handlungen, Entscheidungen, Beschlüsse haben zum Teil existentielle Auswirkungen auf das Leben von Menschen – im Guten wie im Schlechten. Jede Minute Präsenz, jede heilsame Begegnung vor Ort jenseits des Universums von Sitzungen und Ausschüssen erinnert mich daran.“

DS: Hands aufs Herz! Wäre Derya Altunok, stellv. Kreisverbandsvorsitzende der CDU und Vorsitzende der Wuppertaler Frauen-Union, die lange als Bundestagskandidatin für den Wahlkreis Wuppertal I ausgeguckt war, als Gegnerin nicht sogar gefährlicher gewesen – sie ist jung, unverbraucht, hochmotiviert, gut in der Stadt vernetzt und sie ist eine Frau?

Helge Lindh: „Im Grunde könnte ich auf meine Antwort oben verweisen. Sich mit etwaigen Präferenzen bei Kandidaturen anderer Parteien zu beschäftigen, ist vergeudete Zeit. Es liegt ohnehin nicht ich meiner Hand. Ich definiere mich nicht über politische Mitbewerberinnen oder Mitbewerber, sondern über das, wofür ich stehe und was ich ganz praktisch mache. Es ist sicherlich ein spannendes Strategiespiel, darüber zu sinnieren, wer wo infolge welcher Parameter und Kriterien die besten Erfolgschancen bei der Wahlbevölkerung haben könnte und mit welchen Personalien man am meisten Aufmerksamkeit erzeugen könnte. Am Ende führt das aber in eine Sackgasse. Nämlich in die Sackgasse eines rein instrumentellen Politikverständnisses, bei dem die Menschen, die wählen, zur Rechengröße werden, zu Spielsteinen für taktische oder strategische Züge und zudem Stimmungen zur Maßgabe von Haltungen und Überzeugungen geraten. Wahlkampf im engeren Sinne ist keine Leistung als solche, auf die wir stolz sein oder für die wir Beifall erwarten sollten. Der Ernstfall ist der Tag nach der Wahl, dann geht die eigentliche Arbeit erst recht los.“

DS: Mit welchen Kernthemen ziehen Sie in den Wahlkampf?

Helge Lindh: „Die größte Ehre für mich ist, Wuppertal als direkt gewählter Abgeordneter im Parlament vertreten zu dürfen. Das Mandat bedeutet eine immense Verantwortung, der ich mir zutiefst bewusst bin. Dieser Verantwortung gerecht zu werden ist der Auftrag. Diesen Auftrag nehme ich verdammt ernst. Ich gebe 100 Prozent für Wuppertal und bin für die Wuppertalerinnen und Wuppertaler da. Hartnäckig und unermüdlich versuche ich, als Kümmerer und Macher konkret das Beste herauszuholen und fortwährend in Berlin für meine Stadt zu mobilisieren, gleichzeitig die Wuppertal-Tauglichkeit von Gesetzen und Erlassen zu prüfen und umgekehrt Wuppertaler Ideen und Konzepte in die Hauptstadt zu tragen. Deshalb erzähle ich dort unentwegt von meiner Stadt, hiesigen Problemen und Entwicklungen, lade Leute aus der Praxis der Wuppertaler Verwaltung, Zivilgesellschaft, Kulturszene und sozialen Träger als Sachkundige und Sachverständige nach Berlin und habe seit Jahren einen Beirat von Bürgerinnen und Bürgern aus unterschiedlichen Berufen, Stadtteilen und Altersgruppen.“

Helge Lindh mit Der SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken bei einer Wahlkampfveranstaltung in der „Färberei“ – © Lore Duwe

DS: Was genau motiviert Sie und treibt Sie an?

Helge Lindh: „Dies alles tue ich im entschiedenen Kampf für demokratische Werte. Klar und laut mache ich die Klappe gegen die Feinde der Demokratie auf. Gegenüber Menschenverachtung und Gewalt kann und will ich nicht schweigen. In Bundestagsreden ist die harte Verteidigung und Weiterentwicklung der Demokratie für mich zentral, wie viele wissen. Dieses Gesamtpaket ist das Einzige, was ich verspreche. Das aber mit aller Konsequenz. In Bezug auf einzelne Forderungen und Ankündigungen des Wahlprogramms Versprechungen zu machen wäre unseriös. Allzu oft erlebten wir, dass Versprechungen der Umsetzung bei bestimmten Gesetzgebungen gemacht und dann zur Frustration der Menschen nicht gehalten wurden. Seriös ist es, für die formulierten Forderungen und Vorhaben in etwaigen Koalitionsverhandlungen sowie der Regierungsarbeit zu kämpfen und transparent darüber bzw. über geschlossene Kompromisse wie auch über Misserfolge Rechenschaft abzulegen.“

DS: Sie haben Ihr Ohr immer nah an den Menschen in Ihrem Wahlkreis. Mit welchen Gefühlen schauen diese in die Zukunft?

Helge Lindh: „Viele Wuppertalerinnen und Wuppertaler in der Mitte der Gesellschaft haben Abstiegsängste oder sind schon finanziell und beruflich massiv unter Druck. Lebenshaltungskosten und Steuern belasten erheblich. Dort besteht dringend Handlungsbedarf. Viele in unserer Stadt bewegen sich nur knapp über der Armutsgrenze und sind permanent in Sorge, überhaupt irgendwie durch den Alltag zu kommen. Das sind existentielle Nöte. Für die Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit und mit hohen Hürden für den Ersten Arbeitsmarkt ist der Wuppertaler Weg des Zusammenwirkens von Jobcenter, sozialer Trägern und lokalen Unternehmen die einzige Perspektive, einer Situation von Ohnmacht und Aussichtslosigkeit zu entkommen.“

DS: Züge kommen zu spät oder fahren gar nicht, Straßen und Brücken sind kaputt. In den Schulen werden defekte Toiletten beklagt, außerdem bröckelt dort häufig der Putz von Decken und Wänden. Welche Initiativen wollen Sie anschieben, um diese elementaren Missstände zu beheben?

Helge Lindh: „Die Frage von Investitionen in die öffentliche Infrastruktur wie auch in die Zukunft von Unternehmen für Deutschland ist überlebenswichtig. Sowohl Gewerkschaften als auch Unternehmensverbände mahnen einen Investitionsbedarf im hohen dreistelligen Milliardenbereich an. Phantasielose Kürzungen und Streichungen und rigorose Schuldenbremsen sind gerade nicht das Gebot der Zeit. Wuppertal muss endlich raus aus der Vergeblichkeitsfalle der Altschulden, eine Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag ist der Schlüssel dafür. Mittelständische Firmen aus dem Bergischen Land mit hohem örtlichen Verantwortungs-bewusstsein, gerade auch im industriellen Segment, sind mit der Krise und zum Teil überbordenden Regularien und Vorschriften konfrontiert, während internationale Großunternehmen ohne lokale Verankerung intensiv Steuervermeidung oder Steuerflucht betreiben.“

DS: Nicht wenige in unserer Gesellschaft und auch in der Politik sehen unsere Demokratie in Gefahr. Ist das auch Ihre Einschätzung?

Helge Lindh: „Rechtspopulismus und Rechtsextremismus reiten in Deutschland und in ganz Europa auf einer gewaltigen Erfolgswelle, Musk und Zuckerberg ebnen einer komplett enthemmten politischen Öffentlichkeit auf ihren Plattformen den Weg. Die Demokratie steht auf dem Spiel, wobei die Gegner der Demokratie von sich behaupten, die einzigen und wahren Demokraten zu sein. Aus meiner Sicht ist die Idee der EINEN Gesellschaft aktueller denn je. Gerade jetzt ist es gefragt, an dieser Gemeinschaft zu arbeiten und Politik nicht mit dem Bedienen von einzelnen Klientelgruppen und Partikularinteressen zu verwechseln, ohne das Gemeinwesen im Blick zu haben. Als Politiker habe ich mich mit aller Kraft für diese Einheit bei aller Verschiedenheit der Meinungen und Milieus einzusetzen und eben nicht der Versuchung zu erliegen, die eine Gruppe gegen die andere wohlfeil auszuspielen.“

Helge Lindh (r.) mit Lore Duwe und Wuppertals Oberbürgermeister Dr. Uwe Schneidewind beim Abschiedskonzert der Wuppertaler Mundartgruppe „Striekspöen“ auf dem Laurentiusplatz – © Lore Duwe

DS: Egal, was Sie jetzt versprechen, Sie werden immer wieder die Frage beantworten müssen: Warum habt Ihr das in den letzten drei Jahren nicht gemacht? Was entgegnen Sie diesen Leuten?

Helge Lindh: „Die Frage resultiert einerseits aus dem von uns im politischen Betrieb auch selbst geschürten Missverständnis, Politik wäre so etwas wie ein Lieferdienst. Das gilt ebenso für die Methode großspuriger Versprechen, denen dann nicht minder große Enttäuschungen folgten. Politische Ergebnisse sind aber keine Lieferungen auf Bestellungen, sondern Resultate von Aushandlungen und Kompromisse. Andererseits hat die Koalition in den letzten Jahre erhebliche Teile des Koalitionsvertrages abgearbeitet und immens wichtige Rettungspakete geschnürt, für die sie sich nicht schämen muss. Schämen muss sie sich aber für die häufig maximal suboptimale, in meiner Familie würde man sagen: grottige, Außenkommunikation und schlechte Selbstdarstellung und das demonstrative Gegeneinander, wo eine Verantwortungsgemeinschaft nach innen und außen erforderlich gewesen wäre. Hinzu kommen natürlich auch Vorhaben, die infolge der Auseinandersetzungen in der Koalition oder aufgrund des Platzens der Regierung gescheitert sind. Insofern ist die Nachfrage, warum das nicht in den letzten drei Jahren erledigt wurde, vollkommen berechtigt.“

DS: Was kritisieren Sie noch an der Arbeit der Ampel-Koalition?

Helge Lindh: „Chancen wurden vertan, weil Misstrauen herrschte, Strategie vor Pragmatismus ging und immer kompliziertere Pakete zwischen zusammenhanglosen Sachfragen gepackt wurden. Abgesehen davon ist es unbedingt sinnvoll, in Programmen über das bisher Versuchte und auch mutmaßlich für eine Koalition Realistische, über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauszudenken. Visionen einer besseren Gesellschaft und Mut zur Kreativität sind ohnehin Mangelware. Politisch pflegen wir oft so viel Bedenkenträgerei und so wenig Risikobereitschaft, dass wir Menschen umso mehr Risiken aussetzen. Sozusagen politische Untätigkeit aus Angst vor Tätigkeit, vor den Risiken, das womöglich Falsche zu tun und dafür Verantwortung tragen zu müssen.“

DS: Falls Sie wiedergewählt werden: Was dürfen die Wuppertaler Bürger und die Bürger der Bergischen Region von dem MdB Helge Lindh in den nächsten vier Jahren erwarten?

Helge Lindh: „Sie dürfen 100 Prozent Helge für Wuppertal und Umgebung erwarten. Ich fühle mich eins mit meiner Stadt. Auf ihre schroffe Schönheit lasse ich nichts kommen, ohne vorhandene Defizite und Problemlagen zu romantisieren oder gar ignorieren. Gerade weil es die Stadt finanziell schwer hat und immer noch mitten im Strukturwandel steckt, verdient sie, dass ich nicht aufhören werde, wie ein Terrier bestehende Projekte und Initiativen zu stärken, verteidigen und zu sichern und zugleich neue Möglichkeiten zu erschließen. Stillstand ist nicht. Dienst nach Vorschrift auch nicht. Der „Wuppertal-Check“ ist ein Muss, also die Frage der Wirkung von Gesetzen, Verordnungen und Beschlüssen mitten im Leben an der Basis. Allzu oft ergehen wir uns in Gesetzgebung, fragen aber nicht danach, ob sie überhaupt umgesetzt wird, umgesetzt werden kann und in der Praxis Sinn macht.
Die Menschen dürfen auch Nahbarkeit erwarten. Ganz viele Personen, aber auch Vereine und Unternehmen wenden sich an mich mit ihren Einzelfällen. Genauso soll es sein. Das große Ganze ist nichts wert, wenn nicht im vermeintlich Kleinen nach Lösungen gesucht wird. Dort liegt der eigentliche Schlüssel, und dort muss sich erweisen, wie sinnvoll und konstruktiv unsere Arbeit als Berufspolitiker ist.“

Beim erfolgreichen Street Art-Projekt „Urban Art“: (v.l.) Helge Lindh, Valentina Manojlov (Initiatorin), Oliver Wichelhaus, Silvia Wichelhaus, Daniel Köster und Lea Micus. Auf dem Bild zu sehen sind oben (v.l.) Julie Robertson (Künstlerin), Eric Robertson – © gwg

DS: Was geben den Bürgerinnen und Bürger im Tal Helge Lindh in seinem Job als Politiker mit auf den Weg?

Helge Lindh: „Von Wuppertalerinnen und Wuppertalern habe ich unendlich viel gelernt, ich staune immer noch jeden Tag, was Leute auf die Beine stellen und welche Hindernisse sie überwinden und was sie in ihren Lebensgeschichten meistern. Wer keine Menschen mag, sollte keine Politik machen. Der Bevölkerung habe ich alles zu verdanken, sie ist mein Arbeitgeber, ohne sie wäre ich nicht, was ich jetzt bin und sein darf. Die Nordbahntrasse ist ein wunderbares Beispiel für solche Leistungsfähigkeit der Wuppertaler Bürgerschaft, das scheinbar Unmögliche wurde Realität, Zivilgesellschaft, Unternehmen und Sponsoren sowie der Soziale Arbeitsmarkt mit einem Fokus auf die Pflege des Gemeinwesens und des öffentlichen Raums haben das verwirklicht. Die Nordbahntrasse ist so etwas wie „Demokratie auf Füßen“, dort gehen und radeln Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, begleitet von faszinierenden Einblicken in das städtische Leben, Natur, Architektur der vielen Stadtteile. Die Menschen können erwarten, dass ich nicht aufhöre, auf Mut statt Angst zu setzen. Das setzt voraus, Ängste und Nöte ernst zu nehmen und nicht zu denunzieren. Die Kunst ist, diese Ängste nicht zu befeuern und zu bedienen, sondern an ihrer Überwindung hart zu arbeiten.“

DS: Klingt alles sehr hübsch, aber was versprechen Sie den Wuppertalerinnen und Wuppertalern konkret im Falle Ihrer Wiederwahl?

Helge Lindh: „Die Bürgerinnen und Bürger dürfen und müssen von mir erwarten, dass ich mich nicht von Verächtern der Freiheit und Gerechtigkeit einschüchtern lasse und dass ich mich außerdem weiter intensiv mit der „Krise der Repräsentation“ befassen werde. Was meine ich damit? Der Parlamentarismus und unser politisches System sind in einer Vertrauenskrise. Es geht nicht darum, das Parlament zu schwächen, sondern darum, mehr und bessere Bürgerbeteiligung aufzubauen. Deshalb habe ich jahrelang hartnäckig für den sogenannten „Bürgerrat“ des Bundestages in Berlin gestritten, deshalb habe ich seit 2021 meinen Beirat in Wuppertal installiert, der mir neue Perspektiven auf die Folgen politischer Entscheidungen eröffnete. Darauf aufbauend plane ich eine noch weitere und größere Beteiligungsform, Arbeitstitel „Helges Bürgerversammlung“, zu etablieren. Ich habe mal gesagt, dass ich nicht Interessen vertrete, sondern Menschen. Dabei bleibe ich.“

DS: Würden Sie bei einer Niederlage gegen Thomas Haldenwang der Berufspolitik den Rücken kehren oder einen neuen Anlauf nehmen?

Helge Lindh: „Ich will und werde weiterhin Abgeordneter aus, in und für Wuppertal sein. Mit Erwägungen à la „Was wird aus mir“ beschäftige ich mich nicht. Meine Verpflichtung ist es, mich für die Berufswelt, den Alltag, die Freizeit und insgesamt auch die Lebensqualität der Heimat von Abertausenden von Menschen anzustrengen und zu beweisen, dass das Vertrauen, das sie mir geschenkt haben und schenken, berechtigt war. Meine eigene berufliche Zukunft und Existenz sind demgegenüber irrelevant.“

DS: Vielen Dank für das offene, interessante und informative Gespräch.

Das Interview führte PETER PIONKE

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