18. Januar 2025Peter Pionke
Elberfelder erbaute erste Fabrik auf europäischem Festland
„Die Wertschätzung für Industriebauten setzte in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein“, sagt Christoph Grafe. Und doch standen all diese Gebäude im Zuge der frühen Industrialisierung bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts im damaligen Großherzogtum Berg für das starke Unternehmertum im Bergischen Land.
Einer der führenden Köpfe damals war der Elberfelder Bürgermeistersohn Johann Gottfried Brügelmann (1750 – 1802), der in Ratingen die erste Fabrik auf europäischem Festland baute.
Wuppertaler Textilunternehmen hatten die Entwicklung in England im Auge
Fast 100 Jahre vor der beginnenden Industrialisierung in Deutschland hatte der Prozess in England bereits begonnen. Die erste Fabrik der Welt entstand dort 1771, die sogenannte Cromford Mill in Derbyshire. „Das ist sehr interessant, denn das englische Wort für Fabrik ist ja Mill (Mühle). Der Hintergrund davon ist, dass die ersten Fabriken häufig Wasserkraft brauchten“, erzählt Grafe. „Hier verlaufen mehrere Prozesse gleichzeitig. Wir haben eine Konzentration von bestimmten Entwicklungen, die man als Industrialisierung bezeichnen könnte, beginnend mit dem Schritt von der kleinen Handarbeit zu konzentrierten Prozessen mit Maschinen, unter Nutzung von Wasserkraft und dann, im Laufe der Zeit, auch unter Einsatz von Dampfmaschinen.“
Das Festland hing dieser Entwicklung ein bisschen hinterher, erste Industrialisierungen fanden in Belgien und Frankreich statt. Deutschland fiel – mit einer Ausnahme – dabei nicht ins Gewicht, erläutert der Fachmann und erklärt: „Die Wuppertaler Textilunternehmen aber, hatten schon sehr früh die Entwicklung in England im Auge. Das ist auch einer der Gründe, warum Friedrich Engels dann später nach England ging. Brügelmann wusste ganz offensichtlich sehr gut, was in England passierte und versuchte, einen Teil dieses Erfolges ins Bergische zu bringen.“
Vorteilhaft dabei sei die Tatsache gewesen, dass das Bergische damals noch eine territoriale, politische Einheit mit Gesetzen war, die die Gewerbetätigkeit besonders befördert habe. „Zu diesem Zeitpunkt war das Bergische Land noch Teil des Herzogtums Berg, und das war in Westeuropa wirklich eine Pionierregion für alle möglichen Gewerbeansiedlungen, weil es eine ermöglichende Politik gab. Es war ein Territorium, in dem der Erfolg tatsächlich eher wirtschaftlich als militärisch war und in dem sich eine bürgerliche, sehr dichte Gewerbelandschaft entwickelt hatte. Die sogenannte Wuppertaler Garnnahrung ist ein sehr frühes Beispiel dafür.“
Konkurrenz im Tal führt zur Firmengründung in Ratingen
Brügelmann wollte seine Erkenntnisse zwar im Tal ansiedeln, stieß aber auf Widerstände durch die Konkurrenz in Elberfeld und verlagerte seine Pläne zum Bau einer Garnfabrik schließlich nach Ratingen. Dazu Grafe: „Es gab Leute, die vor Ort politisch einflussreich waren, und für die war er möglicherweise zu innovativ. Dazu kam auch der Aspekt des größeren verfügbaren Raumes, weg vom engen Tal.
Zudem war Ratingen damals eine verarmte Stadt, es hatte dort im Mittelalter zwar Frühindustrie gegeben, das war aber alles im Dreißigjährigen Krieg verloren gegangen, obwohl die Stadt sogar Bezug zur Hanse hatte. Mit Unterstützung des Herzogtums Berg war Ratingen für Brügelmann interessant als Ansiedlungsort. Er machte eine Industriepolitik, die sozusagen ‘von oben‘ unterstützt wurde.“
Industriespionage im englischen Königreich?
In der Literatur wird davon gesprochen, dass Johann Gottfried Brügelmann in England Industriespionage betrieben hat. „Die exakten Gegebenheiten sind bis heute nicht hundertprozentig geklärt“, antwortet Grafe. „Es gibt wohl Hinweise darauf, dass er über einen Freund Kontakte nach England hatte, aber ob es nun so war, dass er einen englischen Fabrikarbeiter hierhergeholt hat, der ihm Firmengeheimnisse anvertraute, das ist nicht herauszufinden.“
Sicher ist, dass Brügelmann an Informationen über die Anwendung der sogenannten ´Waterframe`, einer Spinnmaschine mit unabhängigem Antrieb durch ein Wasserrad, herankam, die der Firmengründer der Spinnerei in Cromford, Richard Arkwright, unter strengem Verschluss hielt. Die von Brügelmann in Ratingen gegründete Textilfabrik nannte er kurioserweise dann auch Cromford.
Fabriken lagen oft sehr einsam
Die Cromford-Fabrik in Ratingen wurde bereits fünfstöckig konzipiert, so dass man auf mehreren Ebenen arbeiten konnte. „Man darf nicht vergessen, dass die im Bergischen geleistete Heimarbeit oft auch in mehrstöckigen Häusern stattfand“, erklärt Grafe. „Wenn man die alten Spinnerei- und Webereigebäude aus der vorindustriellen Zeit sieht, dann sehen wir häufig, dass das Bearbeiten des Garns auf dem Dachboden stattfand. Das Mehrstöckige gehörte schon zur Textilfabrikation.“
Architektonisch und städtebaulich interessant sei dabei die Tatsache, dass diese Fabriken in der Regel nicht in Städten, sondern sehr, sehr isoliert in abgelegenen Dörfern gebaut wurden, und das habe sicher auch mit der wichtigen Wasserkraft zu tun. „Typisch für das Bergische ist, dass sich schon im späten Mittelalter die Gewerbe nicht in den Städten, sondern in der Landschaft verteilten, weil sie sich oft an kleinen Flüssen und Bächen ansiedelten, wo die Nutzung von Wasserkraft möglich war.“
Cromford in Ratingen sei in der internationalen Perspektive nicht außergewöhnlich gewesen, aber für das europäische Festland und insbesondere das Rheinland sei die Fabrik besonders und habe Alleinstellungsmerkmal.
Industriegebäude gelten als Vorreiter der modernen Architektur
„Die Gebäude sind sehr stark von einem Nützlichkeitsdenken geprägt“, sagt Grafe, „wir haben hier eine Architektur, bei der in Position und Funktion alle Regeln über Dekore, also das, was ein Gebäude auszeichnen musste, nicht galten.“ Hinzu kam, dass im 18. Jahrhundert diese Industriegebäude auch nicht als Architektur anerkannt wurden. „Es hat sehr lange gedauert, bis die Denkmalschutzwürdigkeit, das Wertschätzen dieser Gebäude überhaupt Gemeingut geworden ist.“
Und auch da sei England seit den 1950er Jahren wieder Vorreiter. „Dort prägte man den Begriff der Industriearchäologie, den die deutschen Denkmalschützer aber nicht schätzen“, schmunzelt der Fachmann. In Deutschland habe es sogar bis in die 1980er Jahre gedauert, bis diese Art der Architektur wertgeschätzt worden sei. Zwar sei man sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bereits über den Nützlichkeitsgedanken und die puristische Ästhetik des schlichten Bauens bewusst gewesen, jedoch kam die Wertschätzung dieser Industriebauten, die Teil der Entwicklung der modernen Architektur seien, erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
„Der Begriff der Denkmalpflege wurde auf einmal auf Industriegebäude oder Gebäude aus der industriellen Revolution und die Gründerzeitbauten, erweitert. Diese Entwicklung der Wertschätzung sensibilisierte Architekten für die architektonischen Qualitäten dieser Art der Alltagsarchitektur.“
Ein Problem ergab sich dahingehend, dass viele dieser großen Fabrikgebäude, die sehr abgelegen liegen, gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch schon lange leer standen und eine andere Nutzung schwierig erschien. In Wuppertal und auch in Ratingen sei die Situation anders, da die Bauten im Ballungsraum liegen. In der früheren Brügelmannspinnerei befindet sich heute das LVR-Industriemuseum.
Fabrikensemble aus der frühen Phase der Industrialisierung
Die Spinnerei Cromford in Ratingen mit ihren Fabrikgebäuden, den Arbeiterwohnungen, dem Herrenhaus, dem davor liegenden Park sowie dem dahinter liegenden Angerfluß, ist eines der wenigen Fabrikensembles aus der frühen Phase der Industrialisierung, deren Gebäude der Nachwelt erhalten geblieben sind. Brügelmanns Herrenhaus mit der dazugehörigen Parkanlage galt als Schaltzentrale der Fabrik. Mit 14 Räumen auf drei Etagen und 320 Quadratmetern Fläche fasziniert heute noch der kreisrunde Gartensaal die Besucher. Das Haus basiert auf Plänen des kurfürstlichen Baumeisters Nicolas de Pigage, der einige Jahre zuvor bereits das kurfürstliche Schloss in Benrath erbaut hatte, also ein barockes Gebäude.
„Der Vergleich zu Benrath wird häufig gemacht“, sagt Grafe, „aber im Prinzip geht es hier um ein durch und durch bürgerliches Wohnhaus. Es ist zwar größer als das Bürgerhaus einer industriellen Familie in Elberfeld, aber es ist ein Gebäude, in dem eine gewisse nüchterne Nützlichkeit den Grundriss bestimmt. Es ist keine höfische Kultur, sondern eine zutiefst bürgerliche. Und das ist nicht enttäuschend, nein, hier ist ein Unternehmer, der seine eigene Wohnkultur realisiert, nur eben größer.“
Der angrenzende Garten birgt für den Wuppertaler Architekten einen Widerspruch in sich. „In dem Moment, wo er den Garten als Barockgarten gestaltet, ist das eigentlich schon etwas altmodisch, denn der englische Landschaftsgarten Mitte des 18. Jahrhunderts war bereits überall in Deutschland eingeführt. Der Garten steht in gewisser Weise dem entgegen, was er selber verkörpert. Der barocke Garten wird im 18. Jahrhundert eher mit Frankreich assoziiert, mit Versailles, also mit aristokratischem Prinzip und Form. Der englische Garten wird eher assoziiert mit der Idee des Freihandels und des Unternehmertums. Brügelmann war ja eigentlich ein Exponent der englischen unternehmerischen Kultur und nicht der aristokratischen Kultur des Brauchgartens. Das ist ein interessanter Widerspruch.“
Brügelmann, ein bedeutender Unternehmer aus Elberfeld
In einem Brief schreibt Johann Gottfried Brügelmann: „…nicht gewohnt, mich durch Schwierigkeiten abschrecken zu lassen, hoffe ich auch alle etwaigen Hindernisse aus dem Weg zu räumen!” Dieses Credo hat der erfolgreiche Unternehmer stets beherzigt. Seine Arbeit war sehr ertragreich und er galt damals als einer der reichsten Männer des Rheinlandes. Er war ein Unternehmer durch und durch, expandierte in Köln und Rheydt und kaufte Schlösser im Umfeld von Ratingen, da diese damals steuerfrei waren.
Er gründete wohltätige Stiftungen und gehörte als Feingeist auch der Ersten Elberfelder Lesegesellschaft an. „Er war ein Vertreter einer in Deutschland zu diesem Zeitpunkt nicht so stark existierenden Kultur des Unternehmertums“, sagt Grafe, „hier im Bergischen passt er in die auf starke Familien gründende unternehmerische Kultur, die es wegen der aktiven Gewerbe- und späteren Industriepolitik im Großherzogtum Berg gab. Er war einer der abenteuerlustigsten Unternehmer in diesem Bereich.“
Uwe Blass
Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe
Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität.
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