22. April 2025Peter Pionke
Pina Bauschs ‚Todsünden‘ haben nichts an Relevanz eingebüßt

Sie war ihrer Zeit weit voraus, schreiben heutige Kritiker. Sicher eine Erklärung für ihren weltweiten Ruhm und ihr internationales Publikum. Diesmal sorgte nicht zuletzt der Auftritt von Welt-Star Ute Lemper in fünf Vorstellungen für ein total ausverkauftes Wuppertaler Opernhaus.
Uraufgeführt wurde das Werk am 07. Juni 1933, als „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ am Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Geschrieben hatte es der weltberühmte deutsche Autor Bertolt Brecht, der mit seinen Werken in seiner Zeit die Theaterwelt veränderte. Seine literarischen Arbeiten stellten oft, wie hier, den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft im Allgemeinen und dem Kontrast zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten im Besonderen heraus.
„Bühnengöttin“ Ute Lemper mit rauchig-verführerischer Stimme
Die Uraufführung des Tanzabends mit den beiden Teilen „Die sieben Todsünden und Fürchtet Euch nicht“ nach Texten von Bertolt Brecht (1898 – 1956) und der Musik von Kurt Weill (1900-1950) fand am 15. Juni 1976 in Wuppertal statt. In diesem Jahr wird der 125. Geburtstag des deutsch-amerikanischen Komponisten Kurt Weill gefeiert.
Und genau das war der Grund für das Tanztheater Pina Bausch in Intendanz von Boris Charmatz, das zweiteilige Brecht/Weill-Stück in der diesjährigen Osterzeit noch einmal an gleicher Stelle aufzuführen. Diesmal unter der großartigen, musikalischen Leitung von Jan Michael Horstmann mit dem Wuppertaler Sinfonieorchester, dem singenden Herrenquartett der Oper und dem Ensemble des Tanztheaters.
Hochkarätige, internationale Künstler
Daneben konnten hochkarätige Gäste aus dem In- und Ausland auf die Bühne geholt werden, so die in New York lebende „Bühnengöttin“ und gefeierte Broadway-Star Ute Lemper (61), mit ihrer rauchig-verführerischen Stimme.
Vordergründig tritt im ersten Teil vor allem die Unzucht in Szene, aber auch Habgier und Stolz, daneben die Faulheit, die Völlerei sowie der Neid und zuweilen auch der Zorn. Anna 1 (Ute Lemper) trifft auf und Anna II (Stephanie Troyak), dem manipulativen Medium.
Sie wird in all ihren Gefühlen der Lebens- und Leidensstationen als eine junge, träge, aber auch schöne und ein wenig verrückte Anna dargestellt. Gab es hier etwa Anleihen bei Siegmund Freud und dessen Thesen der „Ich-Funktionen“ mit fließenden Denk- und Orientierungsstörungen in einer Person, hier zu sehen bei Anna I und II?

Dialoge aus dem Brecht-Libretto von der gottesfürchtigen Familie Annas werden in Gesangsform dargeboten: „Sie war immer folgsam und den Eltern treu ergeben. Der Herr erleuchte unsere Kinder, dass sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt, er gebe Ihnen Kraft, nicht zu sündigen gegen die Gesetze, die reich und glücklich machen.“ Es geht der Familie darum, ein kleines Haus in Louisiana am Fluss Mississippi zu erwerben. Ihren Eltern und ihren beiden Brüdern wird sie dafür, folgsam wie sie ist, ihr verdientes Geld schicken.
Anna II zahlt einen sehr hohen Preis
Sieben Jahre verbrachte sie in amerikanischen Städten, um ihr Glück zu suchen. Begonnen hat die Reise mit einer Anstellung als Tänzerin. Sie wollte Künstlerin sein in einem Cabaret, doch schon bald erfährt sie, dass sie für Geld etwas von ihrem Körper preisgeben muss und dass diejenige, die ihre Blöße versteckt, auf keinen Fall mit Beifall rechnen darf.
Anna II wurde schließlich als Hure ausstaffiert. Am Ende zahlt sie einen hohen Preis. Der Epilog: „Jetzt steht es da unser kleines Haus in Louisiana am Mississippi-Fluss. Geschafft. Nicht wahr, Anna? Anna II, ja Anna“.
Ausbeutung, Vergewaltigung, Kapitalismus und Gier
Im zweiten Teil „Fürchtet Euch nicht“ ging es Pina Bausch erst recht um Körper, um die menschliche Geschichte von Ausbeutung, Vergewaltigung und Überlebenstrieb, Kapitalismus und Gier. Es gilt als das härteste und tiefgründigtes Stück der Choreographin, weil hier die Unterdrückung der Frauen besonders drastisch herausgestellt wird. Kurios dabei, auch Männer tanzen hier in Frauenkostümen und werde so zu einer besonderen Art von Ware und Objekt.
Die Tänzerin Stephanie Troyak (29) spielt ein verletzliches junges Mädchen, das letztlich von einem älteren, sogenannten feinen Herrn mit schickem, gut sitzendem Anzug und Handschuhen bekleidet (dargestellt von Steffen Laube, 64) böse vergewaltigt wurde.
„Fürchte Dich nicht, sitzest Du auch im Sündenpfuhl, Gottes Auge verlässt Dich nicht, er setzt Dich auf den goldenen Stuhl“, so seine sanfte Stimme, bevor er sich mit Gewalt nimmt, was ihm Anna freiwillig nicht geben konnte und wollte. Dazu passte eine hysterisch-aggressive Lachsalve voller Verzweiflung und Wut in den Liedern der australischen Sängerin und Schauspielerin Melissa Madden Gray. „Weiber spielen sich lustvoll auf in ihrer üppigen Pelz-Garderobe“.
Tänzerinnen als lebende Puppen
Frauen als Tänzerinnen werden als lebende, weibliche Puppen zu Marionetten, als sie von Erika Skrotzki um ein Schaukelpferd zum Matrosen-Tango wie in einer Puppenstube gruppiert werden. Bis zu 26 Tänzerinnen und Tänzer füllen die Bühne in einer mitreißenden Revue. Tanz, Spiel und Gesang werden virtuos miteinander in Einklang gebracht. Pina Bauschs Kreation zu „Die sieben Todsünden“ hat auch nach einem halben Jahrhundert reichlich Beifall bekommen und an Relevanz nichts eingebüßt.
Text: Siegfried Jähne
Weiter mit:
Kommentare
Neuen Kommentar verfassen